David Lynch (1946–2025): Schall und Wahn
Von wegen abgründig: Wenn David Lynch sich in eine Idee verliebte, hörte er die Glocken läuten. In den Schlaufen seines Werks wird man sich noch lange verlieren.

Es knistert in der Leitung. Funken sprühen. Ein Mann verliert buchstäblich den Kopf. Welcher Film von David Lynch ist das? Mehrere Antworten sind richtig. «Gotta light?», fragt ein russgeschwärzter Bergmann immer wieder, als habe er einen Sprung in der Platte: Hast du Feuer? Aber nur weil wir uns so schnell keinen Reim auf das alles machen können, müssen wir ja nicht auch gleich den Kopf verlieren.
Sein letzter denkwürdiger Auftritt? Bei Steven Spielberg, ausgerechnet. Der grösste Träumer und der grösste Albträumer des US-Kinos endlich vereint, der eine als Regisseur hinter, der andere vor der Kamera. Eine einzige Szene in Spielbergs «The Fabelmans», David Lynch spielt John Ford, noch so ein Gigant des Hollywoodkinos. Genau etwas gibt der alte Ford dem jungen Aspiranten, der in seinem Büro steht, mit auf den Weg, bevor er ihn fluchend davonjagt, es ist eine Lektion in Bildkomposition: «Wenn der Horizont unten ist, ist es interessant. Wenn der Horizont oben ist, ist es interessant. Wenn der Horizont in der Mitte ist, ist es scheisslangweilig.»
Der Witz an der Szene: An dieser Parole gemessen, hätte David Lynch selber mindestens einen scheisslangweiligen Film gemacht. Das wäre «The Straight Story» (1999), sein Tempo-30-Roadmovie über einen alten Mann auf grosser Ausfahrt, in der Schweiz übrigens der mit Abstand erfolgreichste von allen seinen Filmen. Der Horizont in diesem motorisierten Western? Meist fast schon penetrant eingemittet, wie zum Trotz gegen die Ikonografie des weiten Landes, wie sie das US-Kino seit jeher zelebriert.
Und darin war dieser Film dann doch gar nicht so untypisch für Lynch, wenn man an eine seiner berühmtesten Sequenzen überhaupt denkt, den Auftakt von «Blue Velvet» (1986). Auch da geht er nicht ins Weite, sondern in die rohe Materie des Erdreichs, wenn die Kamera in den Rasen eintaucht, zum lauten Schmatzen der Insekten, in die traumatische Substanz des Realen, ins elementare Wimmeln von Leben und Verfall.
Wer den Fisch fängt
«Ich liebe verwesende Körper nicht unbedingt, aber ein verwesender Körper hat eine unglaubliche Textur», schrieb Lynch in seinem Buch «Catching the Big Fish», einer losen Ansammlung von künstlerischen Exkursen und esoterischen Merksprüchen. «Du gehst ganz nah heran, und die Texturen sind wundervoll.» Man kann sich vorstellen, dass seine Fingerspitzen bei solchen Sätzen durch die Luft tanzen, wie damals vor achtzehn Jahren, bei einem Interview in Berlin, als er dort «Inland Empire» (2006) vorstellte, der nun sein letzter Film fürs Kino bleiben wird.
Er sprach dabei in der ihm eigenen altmodischen Diktion, mit der er auch Gordon Cole in «Twin Peaks» spielte, den schwerhörigen Vorgesetzten von Agent Cooper. Und er sagte so kurios onkelhafte Sachen darüber, wie das ist, wenn er sich in eine Idee verliebt: «Die Glocken läuten!» Obwohl erst 61 damals, wirkte Lynch wie ein vergnügter Veteran aus den 1950er Jahren, der per Zeitreise in der Gegenwart gelandet war: auf eine förmliche Art heiter und irgendwie antiquiert, aus der Zeit gefallen.
Letzteres war allerdings ein Eindruck, der falscher nicht hätte sein können. Denn David Lynch sagte bei jenem Gespräch auch diesen Satz: «Das Internet ist das Kino der Zukunft.» Damals, im Februar 2007, war Youtube erst seit etwas mehr als einem Jahr im Netz, und Netflix war noch eine Videothek, die DVDs per Post verschickte. Das Internet als Kino der Zukunft: Das heisst nicht, dass Lynch das Kino je verloren gegeben hätte – nur schon wegen seiner Soundlandschaften, die bei ihm mindestens so wichtig waren wie die Bilder, hätte er nie darauf verzichten können. Aber im Netz war er ein Early Adopter. Er nutzte es als Galerie für seine Kurzfilme, digital gedreht, ohne die ganze Maschinerie der Industrie. Und so fand er, als es für ihn in Hollywood immer schwieriger wurde, seine Filme zu finanzieren, zurück zu seinen Anfängen, zurück zum Experimentalfilm.
Obwohl, hatte er sich denn je ganz von diesen Anfängen entfernt? Das war es ja gerade, was Lynch zu einer so singulären Figur machte: Seine Filme scherten sich nie um so willkürlich gezogene Grenzen zwischen Avantgarde und Massenkultur, ob im Kino oder im Fernsehen. Und er setzte sich in einer Selbstverständlichkeit über sie hinweg, als habe er das Medium und seine Möglichkeiten gerade erst entdeckt. Seifenoper und Kafka, Schwank und Horror, das Heilige und das Profane: Bei Lynch stand scheinbar Unvereinbares nebeneinander und fand ansatzlos zusammen. Sein Vermächtnis, die dritte Staffel von «Twin Peaks» (2017), war dann etwas, was es nach allen Massgaben der Industrie zwischen Arthouse und Kommerz eigentlich gar nicht geben dürfte: ein rund siebzehnstündiger Primetime-Experimentalfilm.
Wie geträumt aus dem Hinterhalt
Noch eine wiederkehrende Obsession bei Lynch: die Krise der väterlichen Autorität. Fredric Jameson machte sie in seinem Standardwerk zur Postmoderne an «Blue Velvet» fest, doch sie zeigt sich bei Lynch auch schon in «Eraserhead» (1977), in der traumatischen Überforderung des Mannes angesichts des hilflosen kleinen Monsters, das man ihm als Frühgeburt seiner Freundin anhängt. Später dann immer wieder diese dubiosen männlichen Autoritäten, die mit obszöner Lust nur nach ihrem eigenen Gesetz handeln: Dennis Hopper als asthmatischer Drogendealer in «Blue Velvet», Willem Dafoe als irres Scheusal in «Wild at Heart» (1990), Robert Loggia als Gangsterboss in «Lost Highway» (1997).
Vielleicht der irreführendste Begriff, der auch jetzt, nach David Lynchs Tod, für seine Filme wieder gerne bemüht wurde: abgründig. Ein Abgrund ist etwas Bodenloses, aber die Böden, die bleiben bei Lynch eigentlich ziemlich stabil (auch wenn dort Insekten schmatzen, siehe «Blue Velvet»). Die stimmigere Metapher für seine Filme bleibt deshalb das Möbiusband: Die Ebenen nahtlos ineinander verdreht, nie könnte man sagen, auf welcher Wahrnehmungsschlaufe man sich gerade befindet, weil ein Traum jederzeit in die Wirklichkeit kippen kann und umgekehrt.
Wenn schon, lauert das Grauen bei ihm also in der Horizontalen, auf Augenhöhe. In den feinsten Abstufungen der Schwärze in «Lost Highway», in der Villa des Jazzmusikers, wo sich der Korridor in raumloser Finsternis zu verlaufen scheint; oder hinter den roten Vorhängen in «Twin Peaks», von denen wir nie wissen können, was sich dahinter verbirgt, und wenn es nur ein Nichts wäre; oder auch, am helllichten Tag, hinter dem Diner am Anfang von «Mulholland Drive» (2001), wo einer von einem Angstgesicht erzählt, von dem er geträumt hat, und dann taucht dieses dort wirklich wie geträumt aus dem Hinterhalt auf, als wärs der sprichwörtliche Butzemann.

Club Silencio in «Mulholland Drive». Still: Universal Pictures
«No hay banda!»
In «Mulholland Drive» findet sich auch eine der schönsten Vignetten überhaupt über die Macht der Fiktion und den Zauber der Illusionsmaschine Kino. Und wo spielt die Szene? Wo sonst als auf einer dieser Nachtclub- und Variétébühnen, die seit «Eraserhead» zur Grundausstattung im Lynch-Kosmos gehören, wo sonst als wieder vor einem seiner roten Vorhänge. «No hay banda!», ruft der Conférencier im Club Silencio in den Saal: Lasst euch nicht täuschen, da ist keine Band, die Musik spielt hier nur ab Konserve. Doch als nun Rebekah Del Rio auftritt und zu ihrem «Llorando» anhebt, sich dabei die Seele aus dem Leib singt, fliessen auf den Rängen die Tränen – auch dann noch, als die Sängerin auf offener Bühne plötzlich kollabiert und ihre Stimme, aus den genannten Gründen, trotzdem weitersingt, während ihr lebloser Körper weggetragen wird.
In dieser Szene offenbart sich auch ein künstlerisches Credo, das fast alle Filme von David Lynch auf die eine oder andere Weise prägt: maximale Affekte bei maximaler Künstlichkeit, nicht obwohl, sondern weil die Illusion von Anfang an als solche deklariert wird.
«Gotta light?» Zu viel Feuer, viel zu viel davon in Los Angeles, erst recht für einen lungenkranken Mann von fast 79 Jahren. Südwestlich des Mulholland Drive ist schon alles niedergebrannt, als David Lynch am 15. Januar stirbt, fünf Tage vor seinem Geburtstag.
Und in «Eraserhead» singt die pausbäckige Lady hinter dem Radiator immer noch und immer wieder: «In heaven, everything is fine.» Es ist ihm zu wünschen, dass er jetzt an einem weniger langweiligen Ort ist.