«Reifezeugnis»: Spezielle Gesichtsmomente
Es muss in den frühen achtziger Jahren gewesen sein: ich mitten in der Pubertät und Nastassja Kinski als sechzehnjähriges Schulmädchen im Tatort «Reifezeugnis» aus dem Jahr 1977.
Träumerische Augen, ahnungsvolle Lippen, anmutige Bewegungen. Spielerische Wechsel zwischen Scheu- und Keckheit. In den Mundwinkeln aufblitzende Verschmitztheit.
Bald darauf habe ich mich in ein Mädchen verknallt, das ähnlich in die Welt schaute. Da übte ich mich in schüchternen Blickwechseln. Ein paar Jahre später verliebte ich mich abermals in eine junge Frau, die eine mimische Ähnlichkeit hatte – sodass ich an Kinski denken musste, wenn auch in ihrem Gesicht jene Verschmitztheit aufblitzte. Wobei nicht klar ist, ob ich mir die erkenntnistheoretischen Fragen schon damals stellte: Nehme ich gar nicht diesen realen Menschen wahr? Dient mir ihr Gesicht als Projektionsraum für meine spätpubertäre Nastassja-Kinski-Fantasie? Und: Woher diese Fixierung auf mimische Momente?
Seit dem Tag, als mir das Gesicht der jungen Frau, das gerade vom Lichtschein einer Strassenlaterne beleuchtet wurde, gar noch anmutiger als das von Kinski erschien (was mich zunächst erschütterte), geht der Assoziationsweg in die andere Richtung. Seither muss ich, wenn ich einen Film mit der jungen Nastassja Kinski sehe, an die junge Frau von damals denken: wie sie neben mir durch den Herbstabend geht, Laub am Boden, mit einer Ahnung im Gesicht, von der ich kaum eine hatte.
Dass «Reifezeugnis» das liebesromantisch verklärte Drama eines sexuellen Missbrauchs einer minderjährigen Schülerin durch ihren Lehrer erzählt und die sechzehnjährige Darstellerin sexuelle Fantasien älterer Herren zu bedienen hatte, wurde mir erst als Erwachsener bewusst.
Kürzlich, als ich Nastassja Kinski, inzwischen 57-jährig, in einem Fernsehinterview sah, hatte ich ein seltsames Gefühl. Es war eine Mischung aus Wehmut und Trauer.
«Reifezeugnis». 1977. Folge 73 der «Tatort»-Serie. Regie: Wolfgang Petersen.