Erinnerung und Fiktion: Der Fake als Lückenfüller
Mehr als zwanzig Jahre nachdem seine Holocaustmemoiren als Erfindung entlarvt wurden, tritt Bruno Dössekker alias Binjamin Wilkomirski im Dokumentarfilm «W. – Was von der Lüge bleibt» wieder öffentlich auf – und zeigt sich erstaunlich uneinsichtig.
Ist zu diesem Fall nicht schon alles gesagt? 1995 erscheint im Jüdischen Verlag von Suhrkamp ein schmaler Band unter dem Namen Binjamin Wilkomirski: «Bruchstücke – Aus einer Kindheit 1939–1948». Der Autor beschreibt darin seine Kindheit im Holocaust, im Vernichtungslager Majdanek, in einem Waisenhaus in Krakau, schliesslich als Adoptivsohn von Schweizer Pflegeeltern, die ihn schlecht behandeln. Das Buch verkauft sich gut, der Autor noch besser. Er erhält zahlreiche Preise und begeisterte Rezensionen, seine Geschichte hinterlegt er auch als authentischen Überlebendenbericht etwa bei der Shoah Foundation. In der Schweiz platzt «Bruchstücke» mitten in die Diskussion um Raubgold und nachrichtenlose Vermögen. Während das Land mit seiner Tätervergangenheit ringt, kann es sich in Wilkomirski mit einem Opfer identifizieren.
1998 dann die spektakuläre Wende. Der Autor Daniel Ganzfried, selbst Sohn eines Holocaustüberlebenden, enthüllt in mehreren Artikeln in der «Weltwoche», dass Binjamin Wilkomirski in Wirklichkeit Bruno Dössekker heisst und eine Schweizer Biografie hat. Geboren als Bruno Grosjean 1941 in Biel, lebte dieser als uneheliches Kind zuerst bei Pflegeeltern und in einem Heim. Seit 1945 wuchs er als Pflegesohn des kinderlosen Ehepaars Dössekker in einer Villa am Zürichberg auf. Mitte der achtziger Jahre erbte er deren beachtliches Vermögen, nachdem er sich schon 1981 den Pflichtanteil am Erbe seiner leiblichen Mutter, Yvonne Grosjean, erstritten hatte. Die polnisch-jüdische Kindheit im Krieg und im KZ hatte er, getrieben von einer Lebenskrise, Psychotherapien und historischen Recherchen, erfunden.
Nach jahrelangem Schweigen
Historiker, Journalistinnen, Psychoanalytiker und auch Überlebende debattierten die Täuschungsgeschichte ausführlich. Manche unterstellen Dössekker eindeutige Betrugsabsichten, andere sehen ihn aufgrund seiner schwierigen Kindheit weiterhin als Opfer – auch seiner eigenen Einbildungen. Einige üben Selbstkritik, weil sie zu gutgläubig gewesen waren. Andere weisen auf den Flurschaden hin, den der Fall für den öffentlichen Umgang mit den oft prekären Erinnerungen Überlebender angerichtet hatte. Wieder andere wollen lange nicht vom Glauben lassen, dass die Geschichte wahr sei (vgl. «Betroffenheit statt Neugierde» im Anschluss an diesen Text).
Nun gesellt sich mit Rolando Collas Porträtfilm «W. – Was von der Lüge bleibt» eine weitere ausführliche Rekonstruktion des Falls dazu. Dössekker redet darin nach jahrelangem Schweigen zum ersten Mal wieder öffentlich. Colla fragt hartnäckig nach. Zwar lässt Dössekker sich ein halbherziges Eingeständnis seiner Lüge abringen, doch insgesamt erweist er sich als erstaunlich uneinsichtig, bezeichnet sich etwa weiterhin als jüdisch und verliert sich auch sonst in gefühlten Wahrheiten, Fantasiegespinsten – und Schuldzuweisungen.
Seine Aufarbeitung ergänzt der Regisseur mit Schabzeichnungen des Künstlers Thomas Ott. Und angesichts dieser beeindruckenden, eigens für den Film angefertigten Bilder fragt man sich erst recht, warum Colla zu Beginn seine auffallend detaillierte und engagierte Nacherzählung der längst als Fake entlarvten Lebensgeschichte aus «Bruchstücke» mit dokumentarischem Bildmaterial unterlegt. Es wäre so naheliegend gewesen, Dössekkers Fantasiegeschichte konsequent mit Otts Fantasiebildern zu illustrieren, statt die erfundene Erinnerung auf der Bildebene erneut mit einem diffusen Realitätsgehalt aufzuladen.
Innere Not oder Betrug?
Nach den detaillierten Aufarbeitungen und Recherchen von Ganzfried, aber auch von Philip Gourevitch im «New Yorker» und von Stefan Mächler in seiner historischen Studie «Über die Wahrheit einer Biografie» bleibt die Frage: Kann Colla überhaupt Neues zum Fall beitragen? Auffallend ist: Er bleibt sehr nahe an der Person Dössekker dran. Wie viele vor ihm adressiert er die dubiose Rolle von Dössekkers TherapeutInnen, die einen entscheidenden Anteil an der Niederschrift der falschen Memoiren hatten. Und er zeigt nochmals, wie es schon vor Erscheinen von «Bruchstücke» Hinweise gegeben hatte, dass die Geschichte nicht stimmte.
Zur alten Frage, ob Dössekkers eingebildete Erinnerung aus einer inneren Not heraus geformt wurde oder der Betrug eines notorischen Lügners war, wirkt Colla unentschieden – sein versöhnlicher Film gibt Anhaltspunkte für beide Thesen. Eine klare Positionierung zur Tatsache, dass sich eine schwierige Kindheit in der Schweiz schlicht nicht mit einer Kindheit im KZ vergleichen lässt, bleibt aber aus. Da der Fall Wilkomirski nicht bloss eine Privatangelegenheit ist, sondern mit der Erinnerung an ein welthistorisches Verbrechen spielt, wären jedoch weiterführende Fragen zwingend.
Erhielt Dössekkers Theater vielleicht gerade deshalb eine derart umfassende Aufmerksamkeit, weil es gespielt war? Gemessen an dieser erfundenen Biografie, die er dann hingebungsvoll performte, ist die reale Erinnerung womöglich sehr viel unscheinbarer. Jurek Becker etwa, der als Kind den Holocaust überlebte, sagte von sich, er habe kaum sagbare Erinnerungen an seine ersten zehn Lebensjahre. Die meisten Kleinkinder wurden sofort nach der Ankunft in den Lagern ermordet. Füllte «Bruchstücke» vielleicht eine Lücke, die so gar nicht zu füllen war?
Gerade für einen Film, der jetzt in die Kinos kommt, wäre noch eine andere Frage entscheidend gewesen: Colla thematisiert mit keinem Wort, dass bald keine ZeitzeugInnen des Holocaust mehr leben werden. Dabei könnten uns Dössekkers Fake und die breite Resonanz, die er damit fand, in Erinnerung rufen, was die realen Überlebendenzeugnisse auszeichnet, im Unterschied zu den fiktionalen Auseinandersetzungen, die nun überhandnehmen werden.
W. – Was von der Lüge bleibt. Regie: Rolando Colla. Schweiz 2020
Im Pressespiegel: Betroffenheit statt Neugierde
Als «sehr schmerzhaft» und «eine grosse Enttäuschung» beschreibt die Literaturagentin Eva Koralnik in Rolando Collas Film ihre Reaktion auf die Entlarvung von Wilkomirski und dessen Überlebendenbiografie als Erfindung. Das Ausmass der Enttäuschung – im Wortsinn – verdeutlicht auch ein Blick in die Presse.
Als das Buch 1995 erschien, waren die Besprechungen hymnisch. Die NZZ bescheinigte, dass «Bruchstücke» das «Gewicht eines ganzen Jahrhunderts» trage. In der «Weltwoche» war von einem Werk die Rede, «an dessen literarischem Rang» nicht zu zweifeln sei. US-Medien verglichen «Bruchstücke» mit dem Tagebuch von Anne Frank. Das «Magazin» brachte ein mehrseitiges Porträt über den «Musiker und Historiker», der «schrittweise endlich zu sich selbst» gefunden habe.
Im «Tages-Anzeiger» kritisierte Wilkomirski selbst – mit Verweis auf seine eigenen Erlebnisse im Todeslager – ausführlich die Inszenierung einer israelischen Theatergruppe als teilweise geschmacklos und «ungeeignet», den Holocaust begreifbar zu machen: «Unerträglich, wie Holocaust konsumiert wird.» Umso überraschender dann Wilkomirskis Aussage, nachdem 1998 in der «Weltwoche» erste Beweise vorgelegt wurden, dass seine Holocaustbiografie erfunden war. «Niemand muss mir Glauben schenken», beschied er dem Interviewer Peer Teuwsen im «Tages-Anzeiger» nun. Dass er sich mit solchen Aussagen nicht sofort und zweifelsfrei als unglaubwürdig enttarnt sah, erstaunt bis heute. Denn: Welchem Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungslager könnte es gleichgültig sein, ob man ihm glaubt oder nicht? Doch noch 1999 schien Teuwsen in einem als «Aperçu» rubrizierten Text unentschieden, wem er nun abschliessend vertrauen wollte: Ganzfried oder Wilkomirski.
Nicht zuletzt ist bei den einheimischen Blättern ein Mangel an Neugierde und Recherchelust festzustellen. Die nachgezogenen akribischen Grossrecherchen zum Fall wurden von den US-Magazinen «The New Yorker» und «Granta» geleistet. Anstatt derlei Anstrengungen zu begrüssen, wollte die NZZ in diesen Nachforschungen von US-JournalistInnen ein «tief liegendes Misstrauen gegenüber den Schweizer Behörden und Autoritäten» und ein «antischweizerisches Sentiment» entdecken.
Daniela Janser