Bilder zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg: Geschlossene Grenze

In Kaspar Kasics' Dokumentarfilm «Closed Country» stehen sich Opfer und Täter der schweizerischen Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg gegenüber. Eine zwiespältige Angelegenheit.

«Über diese alte Geschichte einen Film machen? Das interessiert doch heute niemanden mehr.» So ähnlich reagierten 1994 die meisten Leute, als der Historiker Stefan Mächler, Drehbuchautor von «Closed Country», mit seinen Recherchen zum Film begann. Die antisemitische Flüchtlingspolitik der offiziellen Schweiz während des Zweiten Weltkriegs, die Mächler und Regisseur Kaspar Kasics beleuchten wollten, war nur ein linkes Minderheitenthema. Noch hatte das Duo keinen Meter abgedreht, als sich alles ändern sollte und die Dreharbeiten in die Zeit der heftigsten Turbulenzen schweizerischer Vergangenheitsbewältigung fielen.

Der Fall Sonabend ...

Im Zentrum von «Closed Country» stehen die jüdischen Geschwister Sabine und Charles Sonabend, die im Sommer 1942 zusammen mit ihren Eltern in der Gegend von Porrentruy in die Schweiz geflüchtet und daraufhin – wie zehntausende andere auch – umgehend an die Deutschen im besetzten Frankreich ausgeliefert worden waren. Während die Eltern Sonabend nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht wurden, überlebten die beiden Kinder dank der schon fast ironisch anmutenden Tatsache, dass sie mit Hilfe deutscher Soldaten nicht in einem Vernichtungslager, sondern in einem französischen Kinderheim landeten. Dort blieben sie bis Kriegsende, und es war der heute in London lebende Charles Sonabend, der 1996 als einer der ersten Holocaust-Überlebenden in der Schweiz nach dem Bankkonto seiner ermordeten Eltern suchte. Da sein Bemühen erfolglos blieb, beteiligte er sich 1997 an der Sammelklage gegen die Schweizer Grossbanken. Gleichzeitig war er der erste abgewiesene jüdische Flüchtling, der vom Bundesrat wegen der direkten Beteiligung der damaligen Schweizer Regierung an der Ermordung seiner Eltern finanzielle Genugtuung forderte. Bereits Anfang 1998 – also lange vor dem kürzlich erfolgten ähnlichen Entscheid im bekannteren Fall Joseph Spring – lehnte der Bundesrat Sonabends Begehren mit der Begründung ab, Verbrechen gegen die Menschlichkeit habe die damalige Schweizer Regierung nicht begangen. Der Rekurs gegen den Beschluss ist immer noch beim Bundesgericht hängig.
Diese zeitgeschichtlichen Hintergründe werden in «Closed Country» allerdings nur am Rande erwähnt. Denn Kaspar Kasics geht es in seinem Film nicht in erster Linie um historische Aufarbeitung, auch nicht um schnelle Schuldzuweisungen, sondern erklärtermassen um ein Sichtbarmachen. Kasics will zeigen, wie das Menschenunmögliche ganz selbstverständlich möglich werden konnte. Dazu arrangierte er direkte Begegnungen der Geschwister Sonabend mit dem heute 86-jährigen Grenzwachtoffizier Fritz Straub, der damals für deren Ausschaffung direkt verantwortlich war, sowie mit Schwester Anne Marie vom Kloster Porrentruy. Dort hatten die Flüchtlinge ihre letzten zwei Nächte verbracht, bevor sie ausgeschafft wurden. «Das waren doch nicht wir, das war die Polizei», zeigt sich die Nonne heute bei der Gegenüberstellung mit den Sonabends empört und legt mit jeder Geste Zeugnis ihrer Unbelehrbarkeit ab; so steht sie letztlich exemplarisch für all jene da, für die Zivilcourage ein Fremdwort war und ist. Einsichtiger reagiert Fritz Straub anlässlich der Begegnung mit den Sonabends: «Heute wissen wir, dass das Boot nicht voll war. Es ist bedauerlich, dass wir diese Arbeit gemacht haben.» Und doch: «Aber was kann ich heute noch tun, was verlangen Sie von mir?»

... der Fall Popowski

Befremdung, ja geradezu Hohn und Spott empfindet der pensionierte Grenzwächter, als er im Film erstmals mit der zweiten Flüchtlingsgeschichte von «Closed Country» konfrontiert wird: Die Geschwister Max, Gaston und Fanny Popowski, ebenfalls jüdischer Herkunft und zur gleichen Zeit an der Schweizer Grenze wie die Sonabends, wurden nicht ausgeschafft, weil Fremdenpolizeichef Heinrich Rothmund anlässlich einer Inspektion an der Grenze die «herzigen Kinder» persönlich sah und es «nicht übers Herz brachte», seinen eigenen Befehl auszuführen. «Wenn die Herren das selber durchführen mussten, haben sie sich aus der Affäre gezogen», kommentiert Straub bitter, während Fanny Popowski höhnt: «Le pauvre, il avait mal au cœur.»
Wie ein Schatten liegen die Aussagen und Zitate aus Akten des Schreibtischtäters Rothmund über dem Film. Die Stimme eines Schauspielers, der das aggressiv-überhebliche Kratz-Hochdeutsch des Kommentators der immer wieder eingeblendeten Schweizer Kriegswochenschau glänzend imitiert, erweckt den Geist des Chefbeamten und dessen bürokratische Ungeheuerlichkeiten zum Leben – ein auf Dauer etwas zu durchsichtiges Stilmittel, um einen «bad guy» festzunageln. Unerträglich voyeuristisch sei «Closed Country», schrieb ein Filmkritiker einer grossen Deutschschweizer Tageszeitung anlässlich der Filmpremiere an der letztjährigen Berlinale. Das lässt sich im Zeitalter von Reality-TV und Doku-Soaps durchaus relativieren, ein ungutes Gefühl aber bleibt. So banal erscheint das Böse.

Nachtrag vom 13. April:

Charles und Sabine Sonabend sind jetzt von Bundesrat Kaspar Villiger zu einem Gespräch eingeladen worden. Die beiden haben die Eidgenossenschaft auf je 100000 Franken Schadenersatz verklagt, weil ihre Eltern nach der Ausschaffung ermordet wurden. Im Fall des Ende 1943 an die Nazis ausgelieferten Joseph Spring entschied das Bundesgericht ja kürzlich, die Übergabe jüdischer Flüchtlinge an ihre Mörder sei damals rechtens gewesen. Das möchte Herr Villiger den Sonabends jetzt wohl persönlich darlegen. Über eine aussergerichtliche Abfindung der beiden wird noch verhandelt.