Graphic Novel: Von der Moderne zerrieben

Nr. 46 –

Es ist eine einfühlsame und erschütternde Reise, auf die uns Joe Sacco in seinem neuen Buch mitnimmt. Nach viel gerühmten Comicreportagen aus Gaza und Bosnien macht er sich nun auf den Weg in den hohen Norden, um der Geschichte der Dene – einer First Nation im Gebiet der heutigen Nordwestterritorien Kanadas – auf den Grund zu gehen. 45 000 Menschen leben dort an Orten, die manchmal nur im Winter über Eisstrassen erreichbar sind – auf einer Fläche, so gross wie Frankreich und Spanien zusammen.

Zu Beginn geht es noch um die Risse, die das Fracking nach Öl und Gas in die Tundra und in die hier lebenden Gemeinschaften sprengt. Doch mit jedem Gespräch tauchen wir tiefer in die traurige Moderne einer indigenen Zivilisation ein. Eine Zivilisation, die durch staatlichen Zwang, Korruption und Alkohol unterdrückt, zerrieben und womöglich unwiderruflich zerstört wurde. Die interviewten Dene erzählen von einseitigen Verträgen, mit denen die kanadische Regierung im 19. Jahrhundert das Land zu Spottpreisen klaute. Sie erinnern sich an die sogenannten «residential schools», in denen indigene Kinder jahrelang eingesperrt und umerzogen wurden. Und immer wieder lesen wir von spiritueller Entfremdung und körperlichen Misshandlungen durch katholische Missionare.

Mit detailreichen und berührenden Zeichnungen erzeugt Sacco einen Sog, der nicht mehr loslässt. «Wir gehören dem Land» zeigt die Brutalität eines Kolonialismus, der gar nicht so weit zurückliegt. Aus jeder Sprechblase spricht hier das intergenerationelle Trauma einer zerstörten Gemeinschaft. Permanente Risse werden erlebbar, die sozialen Nachbeben ebenso: eine unfassbar hohe Suizidrate, grassierende Alkoholsucht, weitverbreitete Misshandlungen und Inzucht. Dabei umgeht Sacco auch die naheliegende Falle, die Vergangenheit der Dene mit ihrem nomadischen Leben bei minus vierzig Grad und monatelanger Dunkelheit zu romantisieren. Er zeigt vielmehr, dass der Schaden angerichtet ist. Einen Weg zurück gibt es nicht.

Joe Sacco: Wir gehören dem Land. Edition Moderne. Zürich 2020. 256 Seiten. 32 Franken