Krieg in Bergkarabach: Schnaps trinken inmitten der Trümmer
Gut 90 000 Menschen sind bereits aus dem umkämpften Gebiet im Südkaukasus geflohen. Das ältere Ehepaar Dschuljeta und Dschamal Tadevosian aber blieb – während sie im Keller Schutz vor Drohnenangriffen sucht, zieht er durch die leer gefegten Strassen.
Die Füsse in spitz zulaufenden schwarzen Schuhen, bewältigt der 83-jährige Dschamal Tadevosian mit jugendlicher Eleganz selbst die steilsten Hügel der Regionalhauptstadt Stepanakert. Doch auf der Trümmerwüste des Mietshauses Nummer 73 in der Admiral-Isakowa-Strasse taugen sein leichter Gang und sein Schuhwerk nicht, und seine Bewegungen werden ungelenk. Die Scherben der zerborstenen Fenster stehen spitz nach oben, zerfetzte Metallteile mit scharfen Kanten hemmen den Schritt, und im Treppenhaus hat die Detonation die Hälfte der Stufen weggesprengt. Türen sind aus ihren Verankerungen gerissen, Wände eingestürzt. Dahinter liegt unter Schutt und grauem Betonstaub, was bis vor wenigen Tagen noch Heimat und Besitz der BewohnerInnen war. Auch die Heimat der Tadevosians.
Am Tag, als vermutlich eine Mittelstreckenrakete in das Haus einschlug, waren Dschamal und seine 82-jährige Frau Dschuljeta Tadevosian nicht daheim. Die Grossfamilie der beiden hat zwei Wohnungen in der Stadt, in denen sie abwechselnd ihre Zeit verbringen. Zurück in der Admiral-Isakowa-Strasse blieb einzig Dschamal Tadevosians blinde Schwägerin, die 89-jährige Lusik Vanjan. Sie lag in ihrem Bett, zugedeckt bis an den Scheitel, als Scherben und Trümmer auf sie fielen. Wie durch ein Wunder überlebte sie, wie durch ein weiteres Wunder hörte irgendjemand auf der Strasse ihre schwachen Hilferufe und trug sie aus dem Haus.
Es ist der zweite Krieg, den die selbsterklärte und international nicht anerkannte armenische Republik Bergkarabach erlebt. Der erste ist von ihr selbst in den neunziger Jahren ausgegangen, er machte aus der 4400 Quadratkilometer grossen Region, die mehrheitlich von ArmenierInnen bewohnt, aber unter Stalins Herrschaft während der Sowjetunion Aserbaidschan zugesprochen wurde, eine geografische und eine politische Enklave. Aus dem Waffenstillstand, den die OSZE 1994 aushandelte, wurde nie Frieden. Das seit mehr als einem Jahrhundert währende gewalttätige Gerangel um die Region verfestigte sich zu unversöhnlichem Nationalismus. Und nicht erst jetzt sterben in diesem Krieg wieder Menschen. All die Jahre war die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan auch eine Frontlinie mit Soldaten und Scharfschützen und Toten auf beiden Seiten.
Weisser Schimmel auf den Blumen
Heute ist Stepanakert im zweiten Monat des neuen Krieges eine Stadt der Stille und Leere. Die Geschäfte sind fast alle geschlossen, die Häuser verlassen. Vor den geschlossenen Lebensmittelläden verrotten Kürbisse, Tomaten und Paprika auf Holzregalen. In den Blumenläden sterben die bestellten Brautsträusse, weisser Schimmel überzieht ihre Blüten. Es sind nicht mehr viele, die sich in den Strassen zeigen, und die, die es tun, sind fast ausschliesslich alte Männer. Die Verachtung, die sie der Gefahr gegenüber zeigen, lässt sie wie eine Art Geheimbund erscheinen: «last men standing» – mag der Feind noch so nahe sein.
Dschamal Tadevosian war nie einer, der den Kampf mit der Waffe guthiess. Seine Verteidigung war das Wort, das journalistische und das Dichterwort. Er studierte als junger Mann in der armenischen Hauptstadt Jerewan, als er in einem Buchladen einen Lyrikband des 1915 geborenen armenischen Dichters Howhannes Schiras fand. Tadevosian begann zu lesen und, so sagt er es heute, wusste, er hatte seinen Weggefährten gefunden. Auf einer Lesung gelang es ihm, den Dichter kennenzulernen, der Gefallen an dem jungen Bewunderer fand. Schiras war in der Nachära des Genozids an den ArmenierInnen durch das osmanische Grossreich aufgewachsen. In diesem Genozid war auch der grösste Teil der armenischen Intellektuellen ermordet oder deportiert worden – eine Erfahrung, die das kollektive armenische Gedächtnis bis heute prägt.
Wie sehr, zeigt die Angst, die in Karabach unter jenen umgeht, die noch geblieben sind. Es sind nicht viele, wahrscheinlich einige Zehntausend. Gut 90 000 der 145 000 EinwohnerInnen sind bereits geflohen, alle wehrfähigen Männer stehen an der Front. Unter jenen, die nicht fliehen konnten, sind BäuerInnen, die ihr Land verteidigen wollen, notfalls – wie sie nicht müde werden zu betonen – bis zum letzten Atemzug. Mütter, die da sein wollen, wenn ihre Söhne einige Tage Fronturlaub haben. Und Familien wie die Tadevosians, die zu alt und zu schwach sind und die schon fast alles verloren haben. Sie machen sich kaum Hoffnungen, dem Tod zu entgehen, sollte Aserbaidschan einen militärischen Sieg über Karabach und vor allem über die Hauptstadt Stepanakert erringen. «Sie wollen und werden uns vernichten, diesmal werden sie uns alle töten», sagt Dschamal Tadevosian so drohend und düster, als würde er aus einer antiken Tragödie deklamieren.
Als der Dichter Schiras, stets ein Kritiker der Sowjets und ihrer korrupten Elite, nach Bergkarabach umzog – das damals noch von der armenischen und der aserbaidschanischen Bevölkerung bewohnt war –, um von dort aus für die Unabhängigkeit Armeniens zu agitieren, folgte ihm Tadevosian. Doch Karabach machte ihn unglücklich: «Ich hatte Sehnsucht nach der Kultur und dem Leben in der Stadt.» Er teilte seinem Freund mit, er werde nach Jerewan zurückkehren. «Da wurde Schiras furchtbar wütend und sagte, mein Platz sei hier.» Also blieb Tadevosian, nahm eine Stelle bei einer örtlichen Zeitung an und begann seinerseits, Gedichte zu schreiben, die meisten patriotische Lobgesänge auf seinen Mentor, auf Armenien oder auf die Schönheit Bergkarabachs. 1961 heirateten Dschuljeta und Dschamal Tadevosian. 1984 starb Schiras, doch längst war Dschamal Tadevosians literarisches Schaffen mit der dunklen Erde und den grünen Bergen von Karabach verknüpft. Nach dem ersten Krieg Anfang der neunziger Jahre verfasste er eine Sammlung mit den Lebensgeschichten der «gefallenen Helden» und versuchte sich an einem Buch über Goethe, von dem er glaubt, dieser habe armenische Wurzeln. Doch das Werk wird aus Mangel an Beweisen nicht fertig.
Wenn die Sirenen aufheulen
Dschamal Tadevosian hat all die Jahre nicht an Frieden für Karabach geglaubt. Der Krieg, sagt er, sei wie ein Gedicht. Niemals fertig, niemals vollständig. Er hatte nur gehofft, ein neuer Krieg fiele nicht in seine Zeit.
Die, die nicht flohen, sitzen auch tagsüber aus Angst vor den Angriffen in Kellern und in den Katakomben der Kirchen. Seit Ende September dieser neue Krieg begann, haben sowohl Armenien als auch Aserbaidschan immer wieder zivile Ziele bombardiert, trafen Drohnen und Raketen Mietshäuser, Kirchen und Krankenhäuser. Die Bedrohung ist allgegenwärtig, und das Heulen der Sirenen ist für viele der BewohnerInnen ein Trauma, das sie schon aus den vorherigen Kriegen – auch 2016 kam es zu Gefechten und rund neunzig Toten – mit sich tragen. Im ersten Krieg in den neunziger Jahren hat jede Familie Verwandte verloren. Diesmal sterben hauptsächlich die jungen Männer, unerfahrene Wehrpflichtige, die der mörderischen Brutalität, mit der dieser Krieg geführt wird, chancenlos ausgeliefert sind. Die Toten auf der nationalen Liste der armenischen Gefallenen sind zum grössten Teil in den Jahren 2000 und 2001 geboren.
Die Propaganda, die seit Jahrzehnten die Feindschaft aufrechterhält, zeigt auch diesmal Wirkung: Selbst die Eltern, die um das Leben ihrer Söhne bangen, fügen stets hinzu, sie seien stolz, dass diese Söhne die Unabhängigkeit Karabachs verteidigten. Ganz so, als seien es 4400 Quadratkilometer wirklich wert, junges Leben zu opfern.
Auch die Tadevosians wohnen seit der Zerstörung ihres Hauses im Keller ihrer zweiten, noch intakten Wohnung. Dschuljeta Tadevosian zittert bei jedem Gefechtsdonner, der sein Echo in den Bergen findet. Die blinde Lusik Vanjan sitzt Tag für Tag zusammengesunken auf ihrem Feldbett. Sieht nichts, hört auch nicht mehr. Die Detonation hat sie taub gemacht. Was ihr geschah und wo sie nun ist, kann ihr niemand erklären, und so weint sie still vor sich hin und fährt mit der Hand über ihre Decke, bis jemand danach greift und sie beruhigend streichelt.
Dschamal Tadevosian hält es nicht aus im Keller. «Lieber unter dem freien Himmel sterben als sich verstecken», sagt er. Immer wieder kehrt er in das zerstörte Mietshaus zurück. Er müsse wichtige Dinge holen, behauptet er, Dokumente, Fotos, die Lieblingsdecke seiner Schwägerin.
«Auf den Frieden und die Ehre»
Die einstige Wohnung der Tadevosians liegt im dritten Stock des zerstörten Gebäudes. Die rechte Seitenfront des Hauses ist komplett fortgerissen, das Dach eingestürzt, alle Fenster zersprungen. Als suche er nach der Lebendigkeit, die einmal in diesem Haus war, tastet sich Tadevosian durch alle Räume. Auf den Küchentischen steht noch das Frühstücksgeschirr, Spielsachen liegen auf dem Boden, über dem Pfosten eines Ehebetts hängt ein Büstenhalter. Als Tadevosian über eine zerbrochene Flasche stolpert, fällt ihm ein, dass er vor Monaten in der Ecke des Küchenschranks eine Karaffe mit selbstgebranntem Brandy versteckt hatte, und als er diese dort unversehrt findet, sagt er, Gott schicke auch in diesen dunklen Zeiten kleine Zeichen seiner Sympathie.
Der Brandy gibt Tadevosian kurzfristig seinen Stolz zurück. Während Dschuljeta Tadevosian im Keller die Propagandasendungen verfolgt, in denen AserbaidschanerInnen als Unmenschen abgetan werden, sitzt ihr Mann oben in der Zweitwohnung und wartet darauf, dass Freunde vorbeikommen, mit denen er über die glorreiche Zeit des Widerstands gegen die Sowjets und nicht nur über das Kriegselend sprechen kann.
Dieser Tage waren die Besuche eine Pein, weil Tadevosian die Regeln der armenischen Gastfreundschaft nicht erfüllen konnte. Er hatte ausser Brot, einer billigen Wurst und Schokolade nichts anzubieten. Die Flasche Schnaps aber macht aus ihm wieder den Mann, der er sein will. Und auch wenn er weiss, dass das Glück nur für einen Tag reichen wird, ist es doch ein Tag der Grosszügigkeit. Erst kommt der Nachbar vorbei, dann Tadevosians Sohn, dann ein alter Freund. Tadevosian bringt strahlend die Trinksprüche aus: «Auf den Frieden», «Auf die Ehre», «Auf die Liebe». Dann trägt er aus dem 36-seitigen Gedicht vor, das er nach dem ersten Krieg geschrieben hatte und das von der Unbesiegbarkeit Armeniens handelt.
In diesem Moment stürzt Dschuljeta Tadevosian aufgelöst in die Wohnung. Aserbaidschans Soldaten seien im Süden durch die Frontlinie gestossen, sie befänden sich im schnellen Vormarsch. «Beruhige dich», sagt ihr Mann. «Diese Stadt wird so schnell nicht fallen.» Doch die Fröhlichkeit des Nachmittags ist dahin. «Wenn das jetzt unser letzter Trinkspruch ist, worauf wollen wir trinken?», fragt der Freund. Tadevosian stellt die Füsse in den spitzen schwarzen Schuhen vor den Stuhl, setzt sich gerade hin, schenkt den letzten Brandy ein. «Auf Schiras und die Poesie.»
Am Sonntag wurde das Ehepaar Tadevosian gemeinsam mit allen anderen BewohnerInnen Stepanakerts evakuiert.
Die Kapitulation
Die aserbaidschanische Armee hat – mit Unterstützung der Türkei – in den letzten Wochen grössere, strategisch wichtige Gebiete im umkämpften Bergkarabach eingenommen und damit Armenien zusehends unter Druck gesetzt. Am Montagabend ist nun unter Vermittlung von Russland eine Waffenruhe zustande gekommen, die auch von russischen Truppen gesichert werden soll.
Für Armenien kommt die Vereinbarung einer Kapitulation gleich. In der Hauptstadt Jerewan protestierten deshalb in der Nacht Tausende mit Parolen wie: «Wir werden unser Land nicht aufgeben!»