Politischer Roman: Ein Tag der Befreiung und der Rache
In «Ein Tag wird kommen» erzählt Giulia Caminito eine italienische Familiengeschichte vor dem Hintergrund heftiger Klassenkämpfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Der Wolf auf dem Buchcover ist nur eine Randfigur. Er hört auf den Namen Cane (Hund), doch der wahre Wolf ist Lupo. Er hat als Zehnjähriger das verletzte Jungtier mit nach Hause gebracht und gezähmt. Lupo lebt im Bergstädtchen Serra de’ Conti, einem «Ort der Habenichtse» in der ostitalienischen Region Marken, wo die Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Halbpächterinnen und Tagelöhner ums Überleben kämpfen. Er ist der starke und aufmüpfige grosse Bruder des körperlich schwachen und ängstlichen Nicola, den er beschützt – auch vor seinem gewalttätigen Vater. Die bettlägerige Mutter droht zu erblinden. Etliche Kinder hat sie zur Welt gebracht, einige von ihnen hat sie unter dramatischen Umständen verloren: Ein Sohn wurde als Apfeldieb verdächtigt und von einem Dorfbewohner in seinem Garten erschossen, die Tochter ging aus zunächst unerfindlichen Gründen ins Kloster – und dann gibt es noch ein Familiengeheimnis, das über allem schwebt.
Steine fliegen vor dem Kloster
Die Äbtissin ist Suor Clara – eine Schwarze Frau, die als Kind im Sudan von Menschenhändlern geraubt und nach Italien verkauft wurde. Clara geniesst als moralische Instanz und Ratgeberin hohes Ansehen in der örtlichen Bevölkerung. Um die drohende Räumung des Klosters zu verhindern, stellen sich die Gläubigen der geistlichen Obrigkeit in den Weg; als Steine fliegen, muss das Räumkommando abziehen – ein kleiner Sieg für die Ausgebeuteten und Unterdrückten. Der Konflikt aber bleibt ungelöst. Gegenspieler der verehrten Äbtissin ist Don Agostino, der Dorfpfarrer, ein gehorsamer Diener der klerikalen Hierarchie, aber auch ein Gewaltverbrecher. Sein Opfer betet dafür, dass er für seine Tat bestraft wird: «Ich bitte dich, Heilige Maria Gottes, töte diesen Mann, dieser Mann muss sterben.» Der unfromme Wunsch findet sich in dem Kapitel, das denselben Titel trägt wie der Roman: «Ein Tag wird kommen» – und dieser Tag wird ein Tag der Befreiung, aber auch der Rache sein.
Giulia Caminito, geboren 1988, gelingt es, verschiedene Erzählstränge kunstvoll zu verweben, Rück- und Vorausblenden erhöhen die Spannung. Im Zentrum stehen die ungleichen Brüder und ihre ebenso innige wie konfliktreiche Beziehung. Lupo beschützt Nicola nicht nur, er finanziert ihm auch die Schule – alles, was der kleine Bruder lernt, ist ein Schlag ins Gesicht des brutalen Vaters und eine Genugtuung für den rebellischen Sohn. Mit Nicolas Hilfe lernt Lupo selbst lesen – gerade in Zeiten wachsender sozialer Unruhe ist das eine wichtige Fähigkeit, um sich in der Welt zurechtzufinden. Revolutionäre AktivistInnen bieten weitere Orientierung. Der Sozialist Bruno, der zu den BäuerInnen aufs Land geht, und die AnarchistInnen in der adriatischen Hafenstadt Ancona vermitteln den unwissend Gehaltenen politisches Bewusstsein: Die herrschenden Ausbeuter und die Pfaffen lügen, weil sie ihre Macht erhalten wollen; es bringt aber nichts, den König zu töten, weil dann nur ein neuer folgt. Vielmehr ist kollektiver Widerstand nötig, das versteht Lupo sofort – und fordert die ArbeiterInnen zum Streik auf: «Ab morgen arbeite ich nicht, sagte Lupo und stand auf, ein grosses, aber immer noch kleines Kind (…) ein Milchbubi, er konnte höchstens elf sein.»
Weltkrieg und Spanische Grippe
Während Lupo und Nicola von der Autorin erfunden wurden, haben andere Romanfiguren wirklich gelebt: Die Schwarze Äbtissin hiess in Wirklichkeit Zeinab Alif, und der anarchistische Grossvater Giuseppe war von der Geschichte von Caminitos eigenem Urgrossvater Nicola Ugolini inspiriert. Diese zu recherchieren und aufzuschreiben sowie die von weiteren Anarchisten in den Marken – das war der ursprüngliche Plan von Giulia Caminito. Herausgekommen ist jedoch etwas anderes: ein wunderbar gestalteter und von Barbara Kleiner sehr gut übersetzter Roman, der «nicht nur einige Wahrheiten, sondern auch viele Lügen» enthält, wie die Autorin am Schluss des Buchs anmerkt.
Zu den historischen Fakten, die den Hintergrund der Geschichte bilden, gehört neben dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe an dessen Ende auch «la Settimana Rossa». Die «Rote Woche» im Juni 1914 in Ancona war eine spontane Revolte als Reaktion auf die Erschiessung dreier demonstrierender Arbeiter durch die Carabinieri. Belegt ist auch die antimilitaristische Tat des Anarchisten Augusto Masetti (1888–1966): Eingezogen als Rekrut für Italiens Kolonialkrieg in Libyen, schoss er im Oktober 1911 auf einen Offizier und forderte seine in Reih und Glied angetretenen Kameraden zur Befehlsverweigerung auf. Statt ihn hinzurichten, erklärte die Armeeführung ihn für verrückt und sperrte ihn ein – aus Angst vor einem revolutionären Märtyrer.
Neben der klaren politischen Haltung, die Caminito zum oft hilflosen Widerstand der subalternen Klassen einnimmt, sind es Sprache und Form, die ihren Roman auszeichnen. Im vergangenen Jahr, bei Erscheinen des Originals, fühlten sich italienische RezensentInnen an Elsa Morante (1912–1985) erinnert, die mit ihren grandiosen Romanen «La Storia» (1974) und «Arturos Insel» (1957) die junge Autorin beeinflusst haben dürfte.
Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen. Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2020. 265 Seiten. 36 Franken