Pop: Windspiel in den Bergen
Was bleibt, wenn eine Liebe scheitert, eine Pandemie die Welt heimsucht, man mit seiner Band die Tour abbrechen und überstürzt heimkehren muss? US-Songwriterin Adrianne Lenker hat diese multiple Katastrophe erlebt: Die Trennung von ihrer Freundin lag noch nicht lange zurück, da kam Corona, und die Europatour ihrer Band Big Thief wurde gecancelt. Die 29-Jährige zog sich in eine Hütte in den Bergen von Massachusetts zurück.
Hier schrieb sie Songs des Innehaltens, der Einkehr. Und was für welche! In «Zombie Girl» besingt sie die Leere und bedeckt sie mit Fragen und Erklärungen: «I cover you with questions / Cover you with explanations / Cover you with music.» Sie umhüllt die Leere mit Musik, übt sich zu gezupfter Akustikgitarre in Meditation. Dazu hört man mal Vogelgezwitscher, mal ein Windspiel. Und in einem anderen Stück, dem todtraurigen «Come», auch mal das Prasseln des Regens.
Mit ihrer Band Big Thief, bei der sie singt und Gitarre spielt, hat Adrianne Lenker letztes Jahr ein gefeiertes Indiefolkalbum vorgelegt («U.F.O.F.»). Ihr neues Soloalbum «Songs and Instrumentals» ist, wie der Titel vermuten lässt, zweigeteilt: Zunächst sind da die «Songs»: elf minimale, reduzierte Folkstücke mit Gesang, die an Kolleginnen wie Angel Olsen oder Joanna Newsom erinnern, an Karen O oder Marissa Nadler. Dann sind da die «Instrumentals»: zwei lange Tracks mit allerhand Klangmaterial, das sich während der Sessions mit Produzent Philip Weinrobe in der zum Studio umfunktionierten Hütte angesammelt hat. Songskizzen sind hier zu hören, dazwischen Field Recordings oder auch nur Rauschen.
Dieser zweite Teil erfasst die Atmosphäre in den Bergen, spiegelt die Suche nach den Songs, die den ersten Teil ausmachen. Beides zusammen ergibt eine 77-minütige Wohltat, ein musikalisches Grossereignis dieses Coronajahres. Denn «Songs and Instrumentals» erzählt nicht nur von der privaten Katastrophe der Adrianne Lenker, sondern auch vom Hochseil, auf dem wir alle gerade tanzen.
Adrianne Lenker: Songs and Instrumentals. 4AD/Beggars/Indigo. 2020