«Herzfaden»: Zehn Karten für eine Zigarette

Nr. 48 –

Thomas Hettche erzählt in seinem neuen Roman die Geschichte der Augsburger Puppenkiste – und von Sehnsucht in der Diktatur.

Von Thomas Hettche vom Dachboden geholt: Lukas, Urmel, Jim Knopf. Foto: Michael Probst, Keystone

Sie gehört zum festen Bestandteil der westdeutschen TV-Kultur. In der Wirtschaftswunderzeit hingen Millionen Kinder vor den mühsam abgestotterten Fernsehern, um nicht zu verpassen, wenn das Erkennungslied anhob und sich der Deckel der Augsburger Puppenkiste öffnete. Am 21. Januar 1953, nur ein paar Wochen nach der ersten offiziellen Ausstrahlung des Ersten Deutschen Fernsehens, ging das damals noch wenig bekannte Puppentheater mit «Peter und der Wolf» erstmals auf Sendung. Später kamen Jim Knopf und Lukas dazu, die einen auf die Insel Lummerland entführten, das Urmel, die Prinzessin Li Si und Kalle Wirsch, der kleine König der Erdmännchen.

Nun sind sie alle auferstanden in «Herzfaden», dem neuen Roman des Berliner Schriftstellers Thomas Hettche, der wohl aus Werbegründen den Untertitel «Roman der Augsburger Puppenkiste» trägt. 1964 geboren, gehörte der Autor selbst zu den ZuschauerInnen und ist nun der Entstehungsgeschichte des berühmten Marionettentheaters nachgegangen. Eigentlich, erzählt Hettche in einem Interview, habe er eine Geschichte für seine dreizehnjährige Tochter schreiben wollen, weshalb die eigentliche, im Präsens gehaltene historische Erzählung in eine farblich abgesetzte gegenwärtige Rahmenhandlung mit einem Mädchen als Protagonistin eingebettet sei. Ein namenloses Mädchen verirrt sich auf einen Dachboden und begegnet dort, auf Puppengrösse geschrumpft, den Marionetten und der Puppenschnitzerin Hattü, die, wie früher die Puppenfäden, nun die Fäden der Vergangenheit aufnimmt.

Die letzte Deportation

Sie führen zurück ins Jahr 1939, als Hannelores – Hattüs – Vater Walter Oehmichen, der Oberspielleiter am Augsburger Stadttheater ist, in die Wehrmacht einberufen wird und die Welt der Neunjährigen und der älteren Schwester Ulla zusammenbricht. Die Kinder bleiben mit Mutter Rose, ehemals gefeierte Schauspielerin in Berlin, in Augsburg zurück. Die Schwestern erleben, wie die jüdische Freundin Bernadette verschwindet und nach und nach alle Augsburger Jüdinnen und Juden. Hattü wird Augenzeugin der letzten Deportation, die sie schwer erschüttert. 1943 kehrt der Kriegsfotograf Oehmichen nach Augsburg zurück und gründet mit Unterstützung der Familie sein erstes, in seiner Privatwohnung betriebenes Marionettentheater. Der «Puppenschrein» wird zu einem Fluchtort für alle, die auf das Ende Hitlers und des Kriegs hoffen; die gezeigten Märchen sind aufgeladen mit dem Grauen der Gegenwart: Hänsel und Gretel, die im Wald ausgesetzt werden, weil Hunger herrscht, und von der Hexe in den Ofen gesteckt werden sollen – kaum zu überbietende Symbolik. 1944 verbrennt der Puppenschrein beim Luftangriff auf Augsburg.

Hattü ist, viel mehr als ihre Schwester, fasziniert von den Puppen. Sie seien, erklärt der Vater, nicht nur an einem Spiel-, sondern an einem Herzfaden aufgehängt. Dieser setzt «genau im Zentrum an, weshalb man denkt, sie hätten so etwas wie eine Seele»; der Faden führe direkt ins Herz der ZuschauerInnen. An diesem Faden lässt die imaginierte Hattü auch das Mädchen auf dem Dachboden fliegen, spinnt es in das Geheimnis der Puppen und in die Schuld ihrer eigenen Generation ein. Als Kind wusste Hattü, «dass sie keine Schuld hat», und doch «fühlt sie sich schuldig». Sie hat nichts Falsches getan, und doch fühlt sich alles falsch an in diesem sogenannten richtigen Leben.

Puppenfamilie

Nach Kriegsende unterstützt Hattü – die, während des Kriegs aufs Land verschickt, selbst begonnen hat, Marionetten zu schnitzen – ihren Vater, der ein neues Theater aufbaut. Sie scharen eine Gruppe versprengter, desorientierter junger Leute um sich, alle desillusioniert und umso empfänglicher für die Geschichten der, wie Oehmichen sagt, «uneitlen» Puppen: «In der Märchenwelt sind wir nicht mehr alleine.» Die Puppenkiste wird zu einer Art Patchworkfamilie. So wie später Jim Knopf in seiner Geschichte per Postpaket ankommt und Urmel aus einem Ei schlüpft, haben viele keine Eltern mehr und leben nur in der Gegenwart. «Wir sind unsere eigene Familie», sagt Hattü. Im Februar 1948 hat die Augsburger Puppenkiste im ehemaligen Augsburger Heilig-Geist-Spital Premiere. Die Karten werden auf dem Schwarzmarkt verkauft: zehn Karten für eine Zigarette. Nach der Währungsreform gerät das Theater in seine erste finanzielle und mentale Krise.

«Man sieht nur mit dem Herzen gut» wird der von Hattü geschnitzte kleine Prinz, der einige Zeit später aus der Märchenkiste steigt, den Menschen aufgeben. Die Sehnsucht, die die Marionetten verkörpern, ist eine gefühlte jenseits aller Vernunft, sie gibt dem «Kind in uns» Auslauf. Hettches märchenhaft erzählter und von den Märchen lebender Roman, der von den stimmigen Zeichnungen Matthias Beckmanns illustriert wird, endet, als die Puppenkiste zum kommerziellen TV-Projekt wird. Hattü, die im Lauf ihres Lebens über 6000 Puppen geschnitzt hat, wird sie mit ihrem alten Freund und späteren Ehemann, Hanns-Joachim Marschall, übernehmen.

Der Kasper aber, der bei der ersten Aufführung noch eine Art Vorrede auf dem Theater halten durfte, wird ins Dunkel des Dachbodens verbannt. Er ist kontaminiert von einer Vergangenheit, die der westdeutschen Gesellschaft unangenehm ist. Thomas Hettche hat dieses kollektiv Verdrängte auf eine Schaudern erweckende Märchenbühne gehoben und die böse Geschichte hinter den Puppenerzählungen transparent gemacht.

Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 279 Seiten. 34 Franken