Wahlen in Bern: Linker geht immer

Nr. 48 –

Seit drei Jahrzehnten ist Bern eine rot-grüne Stadt. Zumindest auf dem Papier. Im Vorfeld der Wahlen in der Bundeshauptstadt wird zunehmend Kritik aus den eigenen Reihen laut.

In Bern fiebert man dem Abstimmungssonntag mit Spannung entgegen. Grund dafür sind auch hier die beiden Volksinitiativen und nicht etwa die Stadtberner Wahlen, die man glatt vergessen könnte. Denn einen richtigen Wahlkampf gab es in diesem Herbst nicht, Überraschungen oder substanzielle Verschiebungen in der politischen Landschaft werden keine erwartet. Seit 1992 sitzt das Rot-Grün-Mitte-Bündnis (RGM) in der Bundesstadt am Hebel. Heute haben die linken Parteien auf legislativer Ebene mit 60 Prozent der Sitze eine deutliche Mehrheit, in der Exekutive sind gar nur noch SP, Grüne und ein CVPler vertreten. Bern ist die Grossstadt mit dem linksten Parlament, auf exekutiver Ebene wurde sie lediglich von Lausanne links überholt.

«Linkssein ist nicht statisch»

In Bern ist die SP in beiden Räten die stärkste Fraktion, die Partei ist längst Teil des Establishments. Mittlerweile fragen sich auch Leute aus den eigenen Reihen, wie kämpferisch der Kurs der SozialdemokratInnen noch ist. Unlängst forderte eine Gruppe innerhalb der SP einen konsequenteren Linkskurs ihrer Partei. Unter dem Titel «Jung, links und bereit für den Aufbruch» wollen zehn JungpolitikerInnen eine Stadt, die «diskriminierungsfrei, sozial, nachhaltig und feministisch» ist. Besteht hier also Nachholbedarf? SP-Kandidat Dominik Fitze, der sich ebenfalls zu den Forderungen bekennt – darunter die Reduktion des CO2-Ausstosses auf netto null bis 2030 oder das Verbot von Geschäftsmodellen wie Uber Eats –, sagt, er finde nicht, dass die Berner SP keine linke Partei mehr sei. «Aber ‹links› muss immer neu ausgehandelt werden. ‹Linkssein› ist nicht statisch, sondern antwortet auf aktuelle Entwicklungen und Bedürfnisse.»

Wem die SP nicht revolutionär genug ist, dem stehen in Bern zahlreiche kleine Linksparteien zur Auswahl. Eine davon ist die Partei der Arbeit (PdA), die aktuell einen Sitz im Stadtrat hält. Eine Motion von PdA-Stadträtin Zora Schneider sorgte in diesem Jahr ausgerechnet in einem Kerngebiet der RGM-Regierung für Wirbel: der Verkehrspolitik. Während Massnahmen wie Velooffensive und Verkehrsberuhigung in den Quartieren nebst positiven Effekten auf Klima und Lebensqualität auch die Gentrifizierung vorantreiben, fordert die PdA radikalere Massnahmen. Geht es nach der ArbeiterInnenpartei, soll der Transport mit öffentlichen Verkehrsmitteln künftig kostenlos sein. Damit würde die Bevölkerung nicht nur finanziell entlastet, sondern auch der CO2-Ausstoss der Stadt massiv verringert werden. Der Vorstoss wurde vom rot-grünen Gemeinderat aus finanziellen Gründen abgelehnt, die PdA sammelt derzeit Unterschriften für eine Gemeindeinitiative.

Ernüchterung auf der Gasse

Ein üblicherweise für die Linke zentraleres Anliegen als Verkehrspolitik ist die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, vorangetrieben etwa mit Massnahmen im Bildungs- und Sozialwesen. Gerade dort werden aber die Grenzen städtischer Politik besonders deutlich: Jahr für Jahr setzt der rechtskonservativ dominierte Kanton Bern Sparmassnahmen auf Kosten der Bildung, des Sozial- und Gesundheitswesens durch. Abstimmungsanalysen offenbaren immer wieder einen tiefen Stadt-Land-Graben. Dass es wie im letzten Jahr gelingt, kantonal eine Senkung der Sozialhilfebeiträge zu verhindern, bleibt die Ausnahme. Der kommunale Spielraum im Bildungs- und im sozialen Bereich sei klein, bestätigt die grüne Gemeinderätin Franziska Teuscher: ««Die Stadt nutzt ihr Potential in diesem Bereich grösstmöglich aus und leistet viel, etwa bei der Frühförderung und in der Arbeitsintegration.»

Was auffällt: Viele der Institutionen, die sich in Bern für weniger privilegierte Menschen einsetzen, sind nicht städtisch, darunter die Notschlafstelle Sleeper oder die kirchliche Gassenarbeit, die sich anwaltschaftlich für ihre KlientInnen einsetzt. Gassenarbeiterin Nora Hunziker sieht in der Sozialpolitik noch viel Verbesserungspotenzial. Als die 28-jährige Aargauerin vor einigen Jahren nach Bern zog, hatte sie noch grosse Hoffnungen: «Ich dachte, mit einer linken Mehrheit in beiden Räten könnte eine unglaublich progressive linke Politik durchgesetzt werden.» Inzwischen ist sie ernüchtert, unter anderem aufgrund der Erfahrungen aus ihrem Berufsalltag. Sie kritisiert die zahlreichen bürokratischen Hürden, an denen ihre KlientInnen oft scheitern, und die Arbeitsweise städtischer Institutionen wie der «Pinto». Die mobile Interventionsgruppe, die sich offiziell «für eine konfliktfreie Koexistenz aller Bevölkerungsgruppen einsetzt», fungiert oft als verlängerter Arm der Polizei, etwa indem Personen, die «stören», von öffentlichen Plätzen verwiesen werden. Hunziker sagt: «Von einer linken Stadt erwarte ich etwas anderes.»

Das Potenzial für linke Politik ist in Bern also auch nach drei Jahrzehnten rot-grüner Herrschaft noch längst nicht ausgeschöpft. Sowohl ausserparlamentarisch aktive Gruppen wie auch linke Parteien zeigen immer wieder Defizite und Handlungsspielräume auf. Eine davon ist Christoph Gostelis radikal linksdemokratische «Die liebe, sehr sehr liebe Partei» (DLSSLP), die den Sprung ins Berner Parlament in diesem Jahr zum ersten Mal schaffen könnte. Sie hat den kostenlosen Versand des Wahlmaterials genutzt, um auf die mangelnden Partizipationsmöglichkeiten von Menschen ohne Stimm- und Wahlrecht aufmerksam zu machen. Anstelle eines Wahlflyers mit ihren Köpfen hat die Partei dem Versand Zitate von MigrantInnen ohne Stimmrecht beigelegt. «Wahlberechtigt zu sein, bedeutet für mich, akzeptiert und wahrgenommen zu sein», steht da etwa.