Von oben herab: Zürich, du Schöne

Nr. 49 –

Stefan Gärtner über die Stadt seiner Träume

So lange bin ich nicht mehr in Zürich gewesen, dass ich im Gedächtnis kramen muss, wie lange genau, und erst die Erinnerung an die «07»-Autobahnvignette an einem Auto, das längst verkauft ist, gewährt Klarheit. Aber was können dreizehn Jahre der altehrwürdigen Stadt am Atlantik schon anhaben?

Schön, das 500-Jahre-Jubiläum im vergangenen Jahr habe ich verpasst, das wäre eine Reise wert gewesen. 1519 legte die spanische Krone eine Siedlung namens «Zuringo» an – der Name geht wohl auf das Inkawort für «Hochmut» zurück –, der günstigen strategischen Lage zu den nahen Eiswürfelminen wegen. Noch heute ist umstritten, ob zuerst die Stadt da war oder der Switzerland Libre, der legendäre Longdrink, dessentwegen sich Hemingway in den Kopf geschossen haben soll: 5 cl weisse Schoggi, 12 cl Rivella blau und ein Spritzer Maggi, ein Drink, so berühmt wie Blochito (brauner Rum, sehr brauner Rum, Zucker für den Affen) und Diaquiri, der allerdings nur mehr selten serviert wird, weil niemand mehr einen Diaquiri-Projektor hat.

Die jahrhundertelange spanische Herrschaft prägt das Stadtbild noch heute, vom Buena-Vista-Platz im Herzen von Zürich über die Spanische Weinhalle (Kreis 1) bis zum Niederdorf mit seinem teuren Tequila; die Bahnhofstrasse, die vom Hauptbahnhof zum See führt, ist ein Musterbeispiel für koloniale Architektur, also für Bauen von fremdem Geld. Lange her; heute, nach Jahren der Misswirtschaft und einer sozialistischen Stadtregierung, die die Badeanstalten gern kostenfrei hätte und die Innenhöfe öffentlich, hat Zürich das Air eines «verwahrlosten, sozialistischen Dritt-Welt-Landes», so die oppositionelle «Neue Zürcher Zeitung» (26.11.2020), wenn auch versüsst durch ewigen Sommer (Erderhitzung) und eine Bevölkerung, die weiss, wie man aus wenig viel macht, z. B. aus Kalbfleisch, Pilzen und Rahm ein Züri-Geschnetzeltes für 50 Franken.

Trotzdem – oder deswegen – bleibt Zürich ein Sehnsuchtsort, beliebt bei Touristinnen und Touristen, für die die um Kugelschreiber (von Montblanc) bettelnden Kinder so dazugehören wie die viel zu grossen Autos von vorgestern, die mit viel Liebe von eigens dafür bezahlten Fachkräften auf der Strasse gehalten werden. Es wird einem nie kalt in Zürich, es sei denn, der Sicherheitsdirektor Mario «Comandante» Fehr hält eine seiner berüchtigten, stundenlangen Reden, in denen er über die Feinde Zürichs und ihre bevorstehende Vernichtung spricht; und wer vorm Zubettgehen noch einen Spaziergang machen will, tut dies am besten am Malecón, der weltberühmten Uferpromenade des Zürichsees, den politisch Unzufriedene und von Mario Fehr Verfolgte immer wieder zur gefährlichen Flucht nach Wollerau, Freienbach oder Rapperswil nutzen.

Nein, ich müsste mal wieder hin; doch bis ich es schaffe, muss ein DVD-Abend reichen. «Buena Vista Asocial Club» von Wim Wenders erzählt die Geschichte einer Bande von Arschgeigern, die in der Kronenhalle auf die Pauke haut, und was metaphorisch heikel klingt, lobte das Lexikon des internationalen Films für «Klischees und überflüssige Sentimentalitäten» – als sei der morbide Charme einer Stadt, die so kaputt und schön ist wie der Kapitalismus selbst, ein Klischee und alles Sentiment überflüssig! Dass die Stimmbevölkerung jetzt etwa abgelehnt hat, das Baden am Mythenquai kostenlos zu machen, wie von der Kommunistischen Partei Zürichs gefordert, was bedeutet das denn anderes, als dass der Mythos Zürich so teuer bleiben soll, wie er es verdient? Und das «Havanna der Schweiz» (NZZ) eben so, wie wir es kennen und immer geliebt haben?

Ein Anruf bei Ruedi Widmer, der am helllichten Tag im Bett liegt und Zürich wie die Tasche jener Weste kennt, die er gar nicht besitzt: «Verurteile mich; das hat nichts zu bedeuten; die Geschichte wird mich freisprechen. Wie war die Frage?» Venceremos! Auf bald!

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.