Abtreibung in Polen: «Die Unantastbarkeit des Klerus wackelt»

Nr. 51 –

In Polen demonstrieren Tausende für das Recht auf Abtreibung. Anna Prus vom Abortion Dream Team über praktische Hilfe unter Frauen, freche Sprüche gegen Pfaffen und ein schwieriges historisches Erbe.

«Einem Priester ‹Verpiss dich!› zurufen? Vor drei, vier Jahren absolut undenkbar.» Anna Prus, Feministin

WOZ: Frau Prus, während der Proteste gegen das neue Abtreibungsgesetz in Polen wird immer wieder die Telefonnummer des Abortion Dream Team auf Hausfassaden gesprayt. Wer oder was verbirgt sich hinter diesem Namen?
Anna Prus: Das Aborcyjny Dream Team war ursprünglich eine vierköpfige Frauencrew, die sich im Oktober 2016 mit dem Ziel zusammengeschlossen hat, das Abtreibungstabu zu durchbrechen. Den Diskurs um die Abtreibung in Polen prägten bisher alte, rechte Männer im Parlament und aus dem Klerus. Das Dream Team hat in den letzten Jahren erreicht, dass das Thema gesellschaftlich breiter diskutiert wurde.

Wie sieht die Arbeit Ihrer Gruppe konkret aus?
Wir sammeln den aktuellen Wissensstand zum Thema Abtreibung, zu den juristischen Grundlagen im Land und den internationalen Gesetzen. Unsere selbsterklärte Aufgabe ist es, dieses Wissen weiterzugeben und andere zu informieren. Der Name Aborcyjny Dream Team wurde den vier Gründerinnen übrigens von einer Journalistin gegeben und hat sich seither etabliert.

Unlängst hat das Verfassungsgericht entschieden, dass Abtreibungen selbst bei schwerwiegenden Schäden des Fötus verboten sind. Was sind die Folgen für Ihre Arbeit?
Die Nachfrage nach Informationen hat sich nach dem Entscheid noch einmal deutlich erhöht. Frauen, die bereits einen Abtreibungstermin hatten, wurde dieser plötzlich abgesagt, weil die Lage nun auch für die Ärztinnen und Ärzte unklar ist. Viele haben Angst, dass sie kriminalisiert werden. Einige Dutzend Frauen, die bereits im Umfeld aktiv waren, haben damit begonnen, das Dream Team zu unterstützen. Täglich erhalten wir etwa 300 Anrufe von Betroffenen aus ganz Polen, ebenso viele Nachrichten per Facebook, Instagram und E-Mail. Seit Bekanntgabe des Gerichtsentscheids Ende Oktober haben wir zudem 35 Auslandsreisen zum Zweck der Abtreibung ermöglichen können.

Wie werden solche Reisen organisiert?
Wir arbeiten dabei mit Abortion without Borders zusammen, einem europaweiten Netzwerk, das 2019 von sechs Organisationen unter anderem aus London, Berlin und Amsterdam gegründet wurde. Es hat sich zum Ziel gesetzt, allen Frauen eine Abtreibung zu ermöglichen, unabhängig von der jeweiligen nationalen Gesetzeslage. Die einzelnen Organisationen empfangen die Frauen am Flughafen, bieten Unterkünfte an, übersetzen und begleiten sie zu den Eingriffen.

Das Urteil hat breiten Protest ausgelöst. Findet in Polen gerade eine gesellschaftliche Veränderung statt?
Definitiv. Natürlich werden die Proteste nicht für immer dauern, aber sie führen zu einer Veränderung in den Köpfen. Die Menschen reden endlich offen darüber, dass der Abtreibungskompromiss keine Lösung ist, und fordern Alternativen ein.

Worum handelt es sich bei diesem Kompromiss?
Bis 1989 war in der Volksrepublik Polen die Abtreibung in vier Fällen möglich. Der vierte Fall war ein Gummiparagraf, der eigentlich nichts anderes besagte als «Abtreibung auf Wunsch». Abtreibung war also legal und normalisiert. Als die Sowjetunion zerfiel und Polen seine Unabhängigkeit wiedererlangte, war alles im Wandel, auch die Verfassung. Also setzten sich die Männer aus der Solidarnosc-Bewegung mit den Bischöfen zusammen. Es entstand ein Gesetz, wonach die legale Abtreibung nur in Ausnahmefällen möglich ist. Dazu gehörte auch die Abtreibung bei schwerer Behinderung des Fötus, die nun auch noch verboten wurde. Das führt faktisch dazu, dass Frauen auch dann ein Kind austragen müssen, wenn klar ist, dass dieses wenige Minuten nach der Geburt stirbt.

Bei den Protesten gewinnt man den Eindruck, es gehe um weit mehr als um das Recht auf Abtreibung.
Es herrscht eine Pandemie, die Menschen verlieren gerade tausendfach ihre Lebensgrundlage, die Wut auf die Regierung ist gross. Der Entscheid des Verfassungsgerichts war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Als Erstes gingen Anarchistinnen und Frauenstreikende auf die Strassen, dann folgten die Massen. Besonders überrascht hat mich, dass die Leute anfingen, den Protest auch in die Kirchen zu tragen. Die Unantastbarkeit des Klerus wackelt.

Warum kam diese Kritik überraschend?
Gerade die Generation meiner Eltern, die während des Kalten Krieges aufgewachsen ist, hat eine unglaubliche Demut der Kirche gegenüber. Sie galt als Ort der Zuflucht und der Hoffnung, hier war die Solidarnosc aktiv. Dieses Bild ändert sich gerade. Fast zeitgleich mit den Protesten kommen laufend neue Fälle von Kindesmissbrauch innerhalb der katholischen Kirche ans Licht. Einige Täter sollen auch von Johannes Paul II., einer polnischen Ikone, gedeckt worden sein. Hintenherum sammeln die Kirchen zudem Unterschriften für ein Gesetzesreferendum mit dem Namen «Stopp LGBT». Die Menschen, gegen die sich das Referendum richtet, sagen sich nun: Okay, wenn ihr euch bei uns einmischt, dann mischen wir uns auch bei euch ein.

Ist das nicht bloss eine Momentaufnahme?
Ich glaube, es gibt kein Zurück mehr. Eine jüngere Generation hat gerade angefangen zu begreifen, dass die Kirche vor allem eine sehr einflussreiche politische Partei ist. Viele hat erbost, dass mehrere Bischöfe dem Verfassungsgericht nach Bekanntgabe des jüngsten Urteils öffentlich gedankt haben. Im Netz kursiert momentan ein Video, auf dem eine Gruppe junger Frauenstreikender vor einer Kirche zu sehen ist. Sie rufen einem erbosten Priester zu, er solle zurück in seine Kirche gehen. Als er sie massregelt, rufen sie: «Verpiss dich!» So etwas wäre in Polen noch vor drei, vier Jahren absolut undenkbar gewesen.

Erhalten die jungen Protestierenden auch Unterstützung von älteren Leuten?
Die Proteste werden auch mitgetragen von Frauen, die in den Zeiten aufwuchsen, als die Abtreibung normal, sicher und legal war. Freundinnen von mir haben an einem der ersten Proteste ein «Abtreibungs-Coming-out» veranstaltet, ein Mikrofon in die Mitte gestellt und die Anwesenden aufgefordert, von ihren eigenen Erfahrungen zu erzählen. Die erste Frau, die das Mikrofon ergriff, war im Alter meiner Grossmutter.

Die Proteste sind besonders in Warschau stark. Wie sieht die Situation in den Agglomerationen und den Dörfern aus?
Der Frauenstreik sammelt zahlreiche Bilder von Protesten im konservativen Hinterland. In Bialystok, wo 2019 eine Pride-Parade von gewalttätigen Neonazis zerschlagen wurde, gingen diesen Herbst plötzlich 11 000 Menschen für das Recht auf Abtreibung auf die Strasse. Selbst in der PIS-Hochburg Garwolin fuhren Traktoren mit dem Banner «Abtreibung ist okay» durch die Strassen.

Die feministische Aktivistin Anna Prus (28) wohnt in Warschau und ist in der Medienarbeit für das Abortion Dream Team aktiv.