Frauenrechte in Polen: Die zynische Rechnung der PiS

Nr. 44 –

Seit vergangener Woche ist Polen einem klerikal-autoritären Staat wieder einen Schritt näher gekommen. Das Instrument der Regierenden diesmal: die drastische Verschärfung des Abtreibungsrechts.

«Verpisst euch»: Wie hier in Krakau demonstrieren landesweit Hunderttausende gegen das faktische Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Foto: Cezary Kowalski, DDP Images

Ihre Rolle als Marionette war Julia Przylebska am Gesicht abzulesen. Während die vorsitzende Richterin des polnischen Verfassungsgerichts vergangenen Donnerstag mit elf weiteren RichterInnen den Plädoyers der KlägerInnen lauschte, die eine Verschärfung des Abtreibungsrechts anstrebten, war sie mit ihren Gedanken sichtlich woanders. Nach einigen pflichtschuldigen Nachfragen ihrer KollegInnen verkündete Przylebska, das Urteil werde in exakt vierzig Minuten gefällt. Vierzig Minuten – für das Urteil über eines der umstrittensten Themen der letzten Jahrzehnte.

Das Gesetz, eines der restriktivsten in der EU, erlaubte auch bislang nur in drei Ausnahmefällen einen Schwangerschaftsabbruch: bei Vergewaltigung, Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren sowie bei einer schwerwiegenden Schädigung des Fötus. Pünktlich verlas die Richterin das Verdikt, das Polens faktischer Autokrat Jaroslaw Kaczynski bei ihr bestellt haben dürfte: Der Passus, der den Abbruch bei einer Schädigung des Fötus erlaubt, sei verfassungswidrig.

Seither demonstrieren landesweit Hunderttausende – und jeden Tag werden es mehr. Am Montag gab es an über 200 Orten Proteste und Strassenblockaden – und das, obwohl die Regierung der rechtsnationalen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zuvor die Ausgangsbeschränkungen verschärft hatte. In vielen Städten kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Für Mittwoch rief eine der wichtigsten Frauenorganisationen, Ogolnopolski Strajk Kobiet, Frauen zu landesweiten Arbeitsniederlegungen auf. Wie aufgebracht die GegnerInnen sind, zeigt sich bereits an ihrer Sprache. Zum viel zitierten Slogan avancierte der Spruch «Wypierdalac» (Verpisst euch), aber auch das Wort «Krieg». «Ich klage euch an, weil ihr einen polnisch-polnischen Krieg anzettelt», sagte die linksliberale Politikerin Barbara Nowacka im Parlament.

Zwei Fliegen mit einer Klappe

Auch vor vielen Kirchen gab und gibt es laute Proteste: Die katholischen Bischöfe hatten dieses Votum seit langem gefordert und begrüssten es nun voller Freude. «Religiöser Fundamentalismus brachte stets Leid, Folter und Tod», kommentierte die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk das Urteil auf ihrem Facebook-Profil. «Frauenrechte sind nicht für immer gegeben, wir müssen sie schützen. Ab heute sind wir alle Kriegerinnen.»

Weil ein immer grösserer Teil seiner Landsleute ähnlich wie Tokarczuk denkt und nur eine Minderheit von sieben bis fünfzehn Prozent eine Verschärfung des Abtreibungsrechts will, hatte Kaczynski jahrzehntelang am Kompromiss festgehalten – wohl wissend, wie viel Sprengstoff ein Abrücken birgt. Und genau deshalb schwenkte er nun um, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: den zuletzt aufmüpfigen Rechtsaussenflügel seiner Partei zu bändigen und zugleich von den Fehlern der PiS bei der Bekämpfung der Coronapandemie abzulenken.

Wie viele andere europäische Staaten verzeichnet auch Polen seit Anfang Oktober eine massive Zunahme an Neuinfektionen, parallel dazu steigt die Zahl der Todesopfer. Das Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps, Spitäler müssen zeitweise Krankenwagen mit Covid-PatientInnen abweisen, die Behandlung Schwerkranker wurde massiv zurückgefahren. Der Unmut über die PiS wächst rapide, nach Meinung vieler ExpertInnen hat es die Regierung in den letzten Monaten fahrlässig versäumt, das Gesundheitssystem zu stärken.

«Das Urteil in einer so schwierigen Zeit der Pandemie zu treffen, ist eine unverantwortliche Provokation», sagt Andrzej Matyja, der Chef der polnischen Ärztekammer. Und tatsächlich könnte das Land für die Teile-und-herrsche-Volte der PiS einen höheren Preis zu zahlen haben. Denn dass die Menschen auf die Strasse gehen würden, war absehbar.

Die Wut wächst

Wahrscheinlich ist, dass Kaczynski genau das kalkuliert hat, also höhere Infektionszahlen und auch mögliche Gewalt bewusst in Kauf nahm. Auch deshalb wächst die Wut auf die PiS und ihren Chef. Doch zugleich dürften sich nun Millionen Menschen hinter die Partei stellen. Deren Ängste werden nun auf jene projiziert, die Kirchenwände vollschmieren und trotz Pandemie protestieren gehen. PiS-PolitikerInnen und regierungsnahe Medien entfachen bereits mehr oder minder subtil Hass auf die DemonstrantInnen und suggerieren, die vielen Kundgebungen führten zum weiteren Anstieg der Infektionen. Am Dienstagabend legte Kaczynski abermals nach: In einer Videobotschaft bezeichnete er die Proteste als Straftat. «Wir sehen in den Angriffen auf die Kirche Nihilismus am Werk, der Polen zerstören soll.»

Nationalistische Gruppen organisieren derweil bereits den «Schutz der Kirchen». «Feministinnen und Linke sprechen von einem Krieg, als Katholiken hissen wir Nationalisten nicht die weisse Fahne, sondern nehmen an diesem Krieg teil, um unsere Zivilisation, die Kultur und Tradition zu schützen», sagte ein Aktivist der Allpolnischen Jugend in der Stadt Rzeszow.

Die Regierung hat am Montag bekannt gegeben, dass sie zur Verstärkung der Polizei die Militärgendarmerie einsetzen will – offiziell, um die Covid-Restriktionen zu überwachen. Auch ein zurzeit im Raum stehender Lockdown oder gar die Ausrufung des Notstands dürfte die ProtestlerInnen kaum aufhalten – eher im Gegenteil. Es scheint, als reichte ein Funke, damit die Menschen aufeinander losgehen – all dies ist offenbar von der Regierung, von Kaczynski, zynisch eingerechnet.