Ein Traum der Welt: Im Labyrinth
Annette Hug weiss nicht, was hinter der nächsten Tür kommt
«Kakosomie» heisst offenbar «Fehlriechen». Das Symptom könne auf den Covid-bedingten Verlust des Geschmackssinns folgen. Man rieche und schmecke dann wieder, aber eigenwillig, meist Widerwärtiges. Kulinarisch lebe man in einer verschobenen Welt. Ganz allgemein bewegen sich gerade Wahrnehmungen auseinander.
Sich nach längerem Unterbruch zu begegnen, ist anspruchsvoll. Dabei sind die virtuellen Treffen mit Bekannten in weit entfernten Ländern noch am einfachsten. Alle wissen, dass Ozeane und Wüstenstriche zwischen den Bildschirmen liegen. Also müssen wir langsam beginnen und nachfragen. Sorgt sich die Freundin noch um ihr Haus, das beim letzten Taifun überflutet wurde, oder steht schon Dringenderes an? Wer ist von der neuen Verhaftungswelle in Manila betroffen? Einen Bekannten treiben anhaltende Proteste von StudentInnen in Thailand um, über die ich hier kaum etwas lese. Die Welt ist nicht überall gleich eng geworden. Aus Hongkong allerdings nur ganz trübe Töne.
Eine Studentin, die vor zwei Monaten einen verwaisten Reiskocher in meiner Wohnung abgeholt hat und dabei noch zuversichtlich von Bewerbungen in Deutschland erzählte, meldet sich aus Peking. Sie habe die Sorglosigkeit ihrer WG-MitbewohnerInnen in der Schweiz nicht mehr ertragen, und ihre Eltern hätten gesagt, sie müsse raus aus Europa. In einem sanften, schonenden Ton erzählt sie vom brummenden Alltag ihrer Stadt.
Schwieriger sind analoge Begegnungen vor Ort. Sie können in nacktem Unverständnis enden. Vielleicht müsste ich auch da sorgfältiger nachfragen, in was für einem Sturm der andere gerade steckt, in welcher Flaute, welchem Ärgernis. Vorsichtig wäre zu eruieren, wofür er sich noch verantwortlich oder zuständig fühlt, wofür eben nicht, was ihn angreift und worüber er gar nicht mehr sprechen mag. Um das rechtzeitig zu erkennen, müsste ich mich von der eigenen Stimmungslage, die täglich wechselt, lösen. Wie bei einem Besuch oder Anruf im Pflegeheim. Meine Verwandte hält sich dort tapfer vor dem Fernseher. Die Pflegenden empfehlen «Validierung» für den Fall, dass sie etwas Unwahrscheinliches erzählt. Ich solle «mitschwingen», nicht widersprechen. Dafür muss ich aber rechtzeitig verstehen, an was für einem Ort sie sich geistig aufhält. Per Telefon versuche ich nachzuvollziehen, wie die Kantine des Geschäfts, in dem sie jetzt beschäftigt sei, an ein Coop-Supercenter angebaut wurde, um den Weg dahin zu verkürzen.
Auf Corona angesprochen, mobilisiert sie harsche Parolen aus ihrer Kriegskindheit. Und stellt dann ganz realistische Fragen: «Wo würden wir essen, wenn das hier losgeht mit dem Virus?» – «Wahrscheinlich im Zimmer.» – «Ja, natürlich. Die können mich durchs Fenster füttern!», sagt sie und wechselt in eine Stimmlage, die an Spielfernsehen erinnert: «Finde weitere lustige Beispiele!»
Draussen, vor den Demenzstationen, müssten wir zu soliden, gemeinsamen Wirklichkeiten finden, damit die Gefahr endlich nachlässt. Aber gerade der Appell ans Gemeinsame kann tückisch sein. Sagt ein Angestellter zu einer Selbstständigen: «Wenn dein Kurs ausfallen sollte, zahlen wir nichts. Aber bereite doch trotzdem mal vor.» Sie reagiert unwirsch. Er: «Diese Unsicherheit müssen wir jetzt alle gemeinsam tragen.» Finde weitere lustige Beispiele.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und übersetzt in einer stillen Kammer Gedichte.