Ein Traum der Welt: Kurzarbeit im Heim
Annette Hug möchte das Glas vor sich einschlagen
Ein Alphorn kanalisiert Atemluft: Sie strömt aus dem angespannten Mund ins Rohr, weitet sich auf dem Weg nach unten und umgibt dann als unsichtbare Wolke das Publikum. Sehr gefährlich ist das. Deshalb spielten kürzlich Alphornbläser draussen bei den Rabatten. Das Publikum sass drinnen in der Cafeteria und blickte durchs Fensterglas hinaus. Herren in Trachtenjacken spielten traurige Melodien. Wer rechtzeitig gekommen war, sah sie sehr gut, hörte ich später. Wir sassen nämlich zuerst oben auf der Demenzstation. Dort waren die Hörner nur zu hören. Die Pflegerin in der Runde hätte unmöglich mit zehn verwirrten BewohnerInnen gemeinsam hinuntergehen können. Also lud sie dazu ein, gemeinsam zuzuhören. Zu raten, was da tönt. Meine Verwandte und ich setzten uns ab und nahmen den Lift. In der Cafeteria hörten wir gerade noch den Applaus und sahen die Hälfte eines Alphorns, das draussen weggetragen wurde.
Zuerst traute ich meinen Augen nicht: Das Pflegeheim hat Kurzarbeit angemeldet. So stand es in einem Brief an die Bezugspersonen. Mehr Todesfälle und weniger Eintritte haben zu einer geringeren Auslastung geführt. Die Kosten sind nicht gedeckt, wenn Betten leer bleiben. Es sei denn, jemand springe ein, um eine Erholungszeit für Personal und BewohnerInnen zu finanzieren, nach einem verrückten Jahr. Oder eine Verschönerungsaktion, eine Weiterbildungsoffensive: Könnten Pflegeheime Orte werden, die dafür bekannt sind, dass man dort auf den letzten Metern alles geniessen kann, was noch zu geniessen ist? Musik vielleicht oder feines Essen, freundliche Menschen mit enorm viel Zeit, Geduld und Interesse, Zärtlichkeit im richtigen Moment und Drogen im gewünschten Cocktail? Könnte ein wohliges Ambiente die unausweichliche Verzweiflung und den elenden Verfall wenigstens stundenweise aufheben? Wie wäre das Überleben zu feiern?
Niemand springt bisher ein, weder Bund, Kantone noch Gemeinden. Bei einem Mittagessen erzählt Natascha Wey, Zentralsekretärin der Gewerkschaft VPOD, dass sich Personalkommissionen aus Alters- und Pflegeheimen mit der Frage melden, wie sie sich auf Entlassungen vorbereiten sollen. Wo und wie können sie Einspruch erheben oder Abfederungen herausholen? Wey beschreibt ein bisher eher stilles Entsetzen: Nach einem Jahr der Unplanbarkeit der Arbeit, weil immer Leute fehlten und andere einspringen mussten, nach der Belastung durch das Sterben in einem Ausmass, das alle hätten verhindern wollen, nach all dem droht jetzt der Jobverlust. Erst mal Kurzarbeit. «Die Pflegequalität ist gewährleistet», steht im Brief an die Bezugspersonen. Das heisst: Die Betreuung läuft auf dem absoluten Minimum. Dabei war doch vorher schon immer zu wenig Zeit.
Auch wenn die Alphörner nicht mehr spielen, bleiben alle in der Cafeteria sitzen. Noch ist es verboten, hier etwas zu trinken oder zu essen, aber das Konzert hat die Stimmung gehoben. Im Gegenlicht sind die Silhouetten der anderen Gäste zu sehen. «Ich erkenne die Figuren und weiss, dass ich sie schon oft gesehen habe, aber darum herum ist wenig klar … was ich sagen will, denkt sich noch nicht», sagt meine Verwandte. Wir suchen gemeinsam nach Worten, landen bei Gedichtzeilen. «Wer reitet so spät …» Ein kleines Mädchen sieht Bomben vom Himmel fallen. Zum Abschied sagt die alte Dame, wie immer: «Bis demnächst in diesem Theater.»
Annette Hug ist Autorin und wird auch als Bezugsperson angesprochen.