Schwarze Mythologien: «Beginnen wir mit dem Ende der Welt, ja?»

Nr. 51 –

Die Werke der AutorInnen Marlon James und N. K. Jemisin unterscheiden sich von fast allem, was man sich von traditioneller Fantasy gewohnt ist. Ihre modernen Mythologien folgen anderen Referenzen.

«Die Wahrheit frisst die Lüge, wie das Krokodil den Mond frisst.» Der Satz auf der ersten Seite von Marlon James’ verrückter afrikanischer Fantasy-Mythologie «Schwarzer Leopard, roter Wolf» steht sinnbildlich für diesen überbordenden Roman. Und er ist auch eine ziemlich dreiste Provokation für die bald schon überforderten LeserInnen, die sich einem Übermass an Figuren, Monstern und Göttern einer fremden Mythologie ausgesetzt sehen, die da alles andere als linear aufeinander losgelassen werden.

Der allererste Satz aber ist ein anderer – einer, der bereits die Auflösung der über 800-seitigen Handlung vorwegnimmt: «Das Kind ist tot. Weiter gibt es nichts zu wissen.» Die Suche nach dem für tot erklärten Kind ist dann auch der einzige rote Faden in der Erzählung, der für ein wenig Orientierung sorgt. Wobei dieser Faden Haken schlägt, als sei er von einem verrückten Schneider kreuz und quer auf einen farbenfrohen, aber löchrigen Stofffetzen genäht worden.

Alles ist im Fluss

Der Protagonist namens Sucher erzählt Geschichte um Geschichte aus seinem Leben, in dem unter anderem ein gestaltwandelnder Leopard eine tragende Rolle spielt. Dabei unterschlägt er ständig Informationen, versteckt Entscheidendes in Nebensätzen und tunkt alles in eine poetische Sprache, durchzogen von queeren Obszönitäten und Beschreibungen extremer Gewalt. «Schwarzer Leopard, roter Wolf» ist ein frustrierendes, teilweise misanthropisches, aber auch ziemlich geniales Werk des jamaikanisch-amerikanischen Autors, der 2015 mit «Eine kurze Geschichte von sieben Morden» den Man Booker Prize gewann und jetzt mit seinem «Abstieg» ins Fantasy-Genre mit schelmischer Freude das Feuilleton vor den Kopf stösst.

«Schwarzer Leopard, roter Wolf» ist der erste Band einer geplanten «Dark Star»-Trilogie, die James einmal – wohl in einer Mischung aus Ironie und Provokation – als afrikanisches «Game of Thrones» charakterisierte. Die Unzulänglichkeit der Referenz wird jedenfalls bereits nach wenigen Seiten offenbar. Und die konsequente Weigerung des Autors, die LeserInnen sanft in seine Welt hineinzuführen, hat kurzsichtige KommentatorInnen dazu veranlasst, das Werk als unausgegoren zu kritisieren.

Doch James’ Obskurantismus hat System, bis in die Satzstruktur hinein. Im Gegenzug lockt eine beeindruckende formale Reflexion über die Natur des Geschichtenerzählens und über dessen Verhältnis zur Wahrheit. Suchte man ein Gegenstück zum sogenannten Infodump, jener so beliebten wie belächelten Praxis zur Informationsvermittlung in allen Erzählformen, die mit erfundenen Welten operieren – James’ mäandrierender Erzählstil wäre dessen Idealtypus. Eine der Figuren umschreibt dieses Prinzip einmal als Reihe von Flussströmen, die zu anderen Strömen führen, in denen man sich verliert, bis man den Zweck der Suche vergisst.

Läuft die Zeit bei James dem Erzählen eher zuwider, so ist sie bei N. K. Jemisin und ihrer Trilogie um die «Zerrissene Erde» etwas Ehrfurcht Gebietendes. Zeit rückt ihr Werk in die Nähe jener traditionellen Science-Fiction, die ihre LeserInnen mit buchstäblich astronomischen Grössenordnungen ins Staunen versetzen will. Jemisin führt diese kosmische Anmassung jedoch ad absurdum, indem sie ins Zentrum ihrer Erzählung menschliche Wesen setzt, die schlicht die Übersicht verloren haben. Wir befinden uns in einer mythologischen Zukunft, in welcher der sich zyklisch wiederholende Weltuntergang quasi zum Alltag gehört: «Beginnen wir mit dem Ende der Welt, ja? Bringen wir es hinter uns und wenden wir uns dann interessanteren Dingen zu.»

Geologische Katastrophen

Auch bei N. K. Jemisin bringt die Suche nach einem Kind die Geschichte ins Rollen. Die Protagonistin Essun sucht nach ihrer Tochter, die vom Vater entführt wurde, nachdem dieser herausgefunden hatte, dass sie wie ihre Mutter eine «Orogene» ist. Orogenes sind Menschen, die mit einem sechsten Sinn Gesteinsmassen kontrollieren können. Sie sind in dieser Welt, die immer wieder von geologischen Katastrophen heimgesucht wird, so gefragt wie gefürchtet und werden – analog zum N-Wort – abschätzig «Roggas» genannt.

Jemisin, eine in Brooklyn lebende Afroamerikanerin, hat mit dieser 2020 abgeschlossenen Trilogie drei Jahre in Serie den Hugo Award gewonnen. «Zerrissene Erde» ist zwar zugänglicher als «Schwarzer Leopard, roter Wolf», weil etwas klassischer und ungleich wärmer in der Charakterisierung der Figuren. Aber wie James spielt auch Jemisin auf höchst originelle Weise mit verschiedenen, zeitlich versetzten Erzählperspektiven. So ähnelt ihr Weltentwurf einer vom Utilitarismus geleiteten mittelalterlichen Feudalgesellschaft, deren politische Ordnung vollständig auf das Überleben der nächsten «fünften Jahreszeit» ausgelegt ist. Dass sich die Geschichte trotz aller Vorkehrungen immer neu wiederholen muss – inklusive Rassismus und grausam geführter Güterkonflikte –, ist die ironische Grundkonstante eines Werks, das trotz allem Pessimismus immer wieder kleine private Utopien aufblitzen lässt.

Was bei beiden Werken auffällt: Nach den geläufigen (westlichen) Schemata sind sie nicht zu kategorisieren. Marlon James erweist in «Schwarzer Leopard, roter Wolf» zwar den alten weissen Männern der Fantasy und Science-Fiction durchaus Reverenz – J. R. R. Tolkien, C. S. Lewis und dem populären Theoretiker der Heldenerzählung Joseph Campbell –, und viele seiner Figuren würden auch im Marvel-Universum nicht aus der Reihe tanzen. Doch als zentrale Vorläuferin der afroamerikanischen Fantastik wirkt hier jemand anderes: Octavia E. Butler, die erste populäre afroamerikanische Science-Fiction-Autorin.

In Werken wie «Kindred» oder der «Patternist»-Serie verwob sie Science-Fiction und Fantasy-Elemente mit Themen der Frauen- und Bürgerrechtsbewegungen. So wird etwa in «Kindred» eine junge Schwarze Autorin per unfreiwillige Zeitreise in den amerikanischen Süden vor dem Bürgerkrieg versetzt, wobei sich herausstellt, dass gesellschaftlicher Fortschritt im Wesentlichen eine Illusion ist. In der «Patternist»-Serie eröffnet sich ein epochenumspannendes Panorama, das anhand einer Erzählung über telepathische Gedankenkontrolle und Ausserirdische vor allem Themen um Gender- und Rassendiskriminierung behandelt.

Wir brauchen den Afrofuturismus

Butler gilt als Vorläuferin einer kulturellen Strömung, die seit den neunziger Jahren unter dem Begriff «Afrofuturismus» gefasst wird. Deren Ursprünge liegen aber ebenso in Butlers Werken wie in jenen von Musikern wie Sun Ra, Künstlern wie Jean-Michel Basquiat und afrikanischen Regisseuren wie Souleymane Cissé, an dessen Film «Yeelen» (1987) «Schwarzer Leopard, roter Wolf» wohl nicht nur zufällig erinnert.

Kürzlich durch den Marvel-Ableger «Black Panther» enorm popularisiert, entwirft der Afrofuturismus fantastisch-utopische Szenarien, die in den Erfahrungen der schwarzafrikanischen Diaspora begründet sind. Die westlich-weisse Interpretation der Weltgeschichte wird hier zugunsten alternativer Entwürfe beiseitegestellt, indem etwa eine Welt ohne die Kolonialisierungen des 19. Jahrhunderts vorgestellt wird. Es geht nur selten um reine Utopien, sondern um von surrealen Elementen durchzogene Fantasien eines «Wie es hätte sein können».

Die Existenz und die Popularität des Afrofuturismus machen zumindest eines deutlich: Schon nur der Drang, Werke wie jene von Marlon James oder N. K. Jemisin in die gängigen Raster von Science-Fiction oder Fantasy einordnen zu wollen, entspringt einer etwas humorlosen Haltung, die fast zwanghaft die Dinge sortieren muss, an die Existenz einer einzigen Wahrheit glaubt und sich auch einen nichtlinearen Zeitlauf nur schwer vorstellen kann. Auch deshalb brauchen wir moderne Mythen aus neuen Perspektiven. Denn wenn in naher Zukunft die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, im Verschwinden begriffen sein wird, werden diese vielleicht noch eine entscheidende Rolle spielen.

Marlon James: Schwarzer Leopard, roter Wolf. Aus dem jamaikanischen Englisch von Stephan Kleiner. Heyne. München 2019. 832 Seiten. 42 Franken

N. K. Jemisin: Zerrissene Erde. Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Gerold. Droemer/Knaur. München 2018. 496 Seiten. 24 Franken