Corona Call (1): Jean-Jacques Fasnacht: «Es ist wie bei der Arche Noah»

Nr. 1 –

Jean-Jacques Fasnacht

«Die Impfkampagne des Bundes hätte sicher besser anlaufen können. Man hätte besser dealen müssen, als klar war, dass der Impfstoff von Biontech/Pfizer bald zugelassen würde. Auch wünschte ich mir eine kohärente nationale Impfstrategie.

Unsere Praxis liegt im Zürcher Weinland, quasi im Dreikantonseck. Wir haben Patientinnen und Patienten aus den Kantonen Zürich, Schaffhausen und Thurgau. Und überall läuft es anders. In Zürich ist das Onlineanmeldesystem innert Kürze überlastet zusammengebrochen. Als Zückerchen gibt man uns Hausärzten nun die Möglichkeit, drei Höchstrisikopatientinnen anzumelden. Wir haben unsere Praxis am Montag zum ersten Mal nach den Festtagen wieder geöffnet. Am Morgen um 6.55 Uhr kam die Meldung vom Gesundheitsdepartement, es seien 1273 Impftermine zu vergeben. Doch diese waren in Nullkommanichts weg. Wir konnten niemanden anmelden.

Mir kommt es vor wie bei der Arche Noah. Alle versuchen aufzuspringen. Die Patientinnen brauchen nun den Rettungsring. Wir sind eine grosse Praxis mit sieben Ärztinnen und Ärzten und acht medizinischen Praxisassistentinnen. Wir haben nicht zwei, drei, sondern 200, 300 oder mehr Patienten, die höchst gefährdet sind. Am Montag liefen die Drähte den ganzen Tag heiss. Ein Riesentohuwabohu. Wie geht man damit um, dass man nur einem Bruchteil aller, die auf eine Impfung warten, rasch helfen kann – sofern wir überhaupt Termine bekommen? Es ist ein bisschen wie beim Lottospielen, wo man jemanden rausfischt. Wir machen Listen, wir priorisieren nach Alter, nach Schwere der Krankheit. Im Moment geht es vor allem darum, die Betroffenen zu stärken, Aufbauarbeit zu leisten. Wir versprechen den Patienten, dass wir sie so rasch wie nur möglich anmelden, motivieren sie aber auch dazu, weiter vorsichtig zu sein, Masken zu tragen und Abstand zu halten. Damit sie auch die nächsten Monate gut durchkommen. Es ist natürlich besonders dramatisch, wenn sich jemand so kurz vor der rettenden Impfung noch ansteckt.

Ich habe diese Praxis 1984 vorerst als Einzelpraxis eröffnet. So eine extreme Zeit habe ich noch nie erlebt. Wir führen in Kooperation mit dem Kantonsspital Winterthur Coronatests durch. Für die Tests können wir den neben der Praxis gelegenen Theoriesaal der Feuerwehr nutzen. Pro Tag führen wir etwa zwanzig bis dreissig Tests durch, dazu klingelt ständig das Telefon; die Leute haben Kummer, brauchen Trost und Beratung. Daneben läuft der gewöhnliche Betrieb weiter. Überstunden sind normal.

Uns ist bewusst, dass auch das nächste halbe Jahr eine riesige Herausforderung wird. Insbesondere wenn dann der Moderna-Impfstoff eintrifft, den auch Hausärzte verabreichen können. Doch wir haben Durchhaltevermögen. Manchmal stecken wir am Morgen die Köpfe zusammen, wie eine Rugbymannschaft, die sich vor dem Spiel einschwört. «Wir werden durchkommen», sagen wir uns dann. «Im Sommer werden wir wieder durchschnaufen und uns umarmen können.» Das ist überhaupt das, was mir am meisten fehlt: körperlicher Kontakt. Dass man einen Sterbenskranken auch mal in den Arm nehmen, ihn trösten kann.

Ich gehe davon aus, dass die Impfskepsis bis im Sommer verfliegen wird. Es gibt ja so etwas wie den Black-Friday-Effekt: Wenn es etwas gibt, kommen die Leute. Zudem ist anfängliche Skepsis bei neuen Medikamenten oder Impfstoffen normal. Und bis zu einem gewissen Punkt ja auch angebracht. Wir sehen aber jetzt schon langsam, dass die Nebenwirkungen der Coronaimpfung wirklich nicht so dramatisch sind.»

Jean-Jacques Fasnacht (70) ist Hausarzt in Marthalen und Präsident der atomkritischen Ärzteorganisation PSR/IPPNW Schweiz (ÄrztInnen für soziale Verantwortung und für die Verhütung eines Atomkriegs).