Kommentar zum Prozess gegen Julian Assange: Im Zweifel für die Anklage
Julian Assange wird vorerst nicht an die USA ausgeliefert. Ein Etappensieg für ihn – aber ein Rückschlag für die Pressefreiheit.
Es war ein überraschendes Urteil, das Vanessa Baraitser am Montag in London fällte: Julian Assange wird nicht an die USA ausgeliefert, zumindest vorläufig nicht. Ihren Entscheid begründete die Bezirksrichterin mit den drohenden Haftbedingungen – und dem Gesundheitszustand des Angeklagten. Baraitser beschrieb Assange als «depressiven und verzweifelten Menschen mit Zukunftsängsten»; sie könne nicht ausschliessen, dass er sich in einem US-Gefängnis das Leben nehmen würde.
Für den Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, der seit bald zwei Jahren in einem Gefängnis für Terroristen und Mörder sitzt, ist das ein Etappensieg. Das letzte Wort ist aber noch lange nicht gesprochen. Die USA haben angekündigt, in Berufung zu gehen. Nach einer weiteren Instanz könnte der Fall vor dem britischen Supreme Court landen, danach womöglich gar vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Bis sich das Schicksal des 49-Jährigen entscheidet, dürften Jahre vergehen.
So erfreulich das Urteil für den gesundheitlich schwer angeschlagenen Assange auch ist – es erfolgte aus den falschen Gründen. Denn in der Sache hielt die Richterin die Anklage der US-Justiz für gerechtfertigt, die dem Publizisten Geheimnisverrat vorwirft und ihn nach einem Gesetz gegen Spionage aus dem Jahr 1917 bestrafen will. Damit schlug sie die Kritik zahlreicher Menschenrechtsorganisationen in den Wind, die das Verfahren für unfair und politisch motiviert halten. Im Zweifel für die KlägerInnen.
Zehn Jahre ist es nun her, dass Wikileaks zusammen mit den renommiertesten Medienhäusern der Welt schwere Verbrechen der US-Truppen im sogenannten War on Terror in Afghanistan und dem Irak ans Licht beförderte. Doch während die Täter von damals ohne Strafe blieben, verfolgt die US-Justiz Assange bis heute. Und nicht nur ihn: Die ehemalige Soldatin Chelsea Manning, die Wikileaks das Material übergeben hatte, wurde ebenfalls eingesperrt. Letztes Jahr beging sie in Haft einen Suizidversuch. Whistleblower Edward Snowden musste für seine Enthüllungen ins russische Exil.
Indem Richterin Baraitser der Anklage in der Sache recht gibt, gewährt sie der Berufung nicht bloss Spielraum, die Auslieferung schliesslich doch noch durchzusetzen. Sie schafft auch einen gefährlichen Präzedenzfall. Mit dem Urteil stützt sie letztlich die Botschaft der US-Justiz: Wer sich der Herrschaft entgegenstellt und Informationen über ihre Machenschaften preisgibt, soll vernichtet werden. Der Überbringer schlechter Nachrichten wird so zum Gejagten, um potenzielle NachahmerInnen abzuschrecken. Für den investigativen Journalismus, der von der Kooperation mit WhistleblowerInnen lebt, ist das eine Niederlage, für die Freiheit von Meinung und Presse ein Rückschlag.
Zwiespältig ist das Urteil aber auch aus einem anderen Grund. Es waren gerade der langjährige Aufenthalt in der ecuadorianischen Botschaft und die anschliessende Isolationshaft, die ständige Überwachung und die vielen Schikanen, die Assange überhaupt erst krank machten. Eine Freilassung auf Kaution oder Hausarrest hatte Baraitser mit Verweis auf eine angebliche Fluchtgefahr zu Beginn des Prozesses ausgeschlossen. Nun begründet sie ihren Entscheid mit just dieser Krankheit. Eine Verkehrung, die kafkaesker nicht sein könnte – und gerade deshalb leider so gut zu diesem Fall passt.
Mit seinem Urteil aus humanitären Gründen hat sich das Gericht letztlich aus der Verantwortung gestohlen. Zu begreifen ist die ganze Dimension wohl auch in einem geopolitischen Kontext. Nach dem Austritt aus der Europäischen Union braucht Grossbritannien dringend verlässliche PartnerInnen, und mit den USA wünscht sich Premierminister Boris Johnson einen Freihandelsvertrag. Den grossen Bruder in der transatlantischen Allianz zu verärgern, wollte man offenbar nicht riskieren.