Wichtig zu wissen: Kapitolismus
Ruedi Widmer über die Neue Welt
Was beim Sturm auf das Kapitol zumindest mir nicht auffiel: dass diese Leute keine Masken trugen. Vielleicht weil beim letzten Sturm auf das US-Parlament 1814 auch niemand eine Maske trug (die Pest war schon länger vorbei). Wahrscheinlicher dürfte sein, dass man es dem ganzen Rechtsspektrum inzwischen nachsieht, ohne Maske in der Öffentlichkeit herumzulaufen, denn Rechte können – wenn man «nachdenkt» – gar kein Corona bekommen, weil sie – Bingo! – in der Vergangenheit stehen geblieben sind. Oder weil sie nicht daran glauben. Wer nicht an Gott glaubt, sieht auch höchst selten eine Marienerscheinung.
Wenn man das Gesindel im Kapitol näher anschaut, muss man das Bild des vergangenheitsorientierten Konservativen aber überdenken. Das sind nicht Neonazitypen wie in Ostdeutschland. Solche bärtigen Hipster mit Käppis stehen bei uns vor den Clubs der Langstrasse in Zürich oder kurven mit dem Fixie herum. Ein Gehörnter mit grossem Pelzhut erinnerte an Jamiroquai.
Dank eines Fotos bei Instagram flog auch die Demoteilnahme von Ariel Pink und John Maus auf. Ja, die grossen Hipstermusiker aus Kalifornien, die von «Spex» bis «Pitchfork» kaum unter acht von zehn Sternen beurteilt wurden. Ist deren «Vote for Trump»-Tweet vom 30. Dezember jetzt jene Ironie, die von Dadaismus über Monty Python, Punk, die Kulturschickeria, Pop und Fernsehen irgendwie zu Trump und Leuten wie den SatirikerInnen Markus Somm, Lisa Eckhart oder zur Neuen Rechten und den Evangelikalen gelangt ist?
Ich hoffe händeringend immer noch auf eine ironische Demoteilnahme. Denn die Musik beider zählt für mich zur allerbesten der 2010er Jahre, und ich kann sie jetzt nicht einfach auf allen Datenträgern löschen, weil sie tief, zentral und völlig unironisch in die musikalische DNA meines Midlife eingebaut ist. Was habe ich diese Alben angehört, Leuten gezeigt, hör mal. Einzelne Songs summen sogar meine Kinder. Ariel Pink hielt und halte ich zwar nicht gerade für einen Sympath, aber für einen grossartigen Komponisten und Arrangeur, ebenso John Maus, weiss der Geier, was in diese Typen gefahren ist. Was für Deppen. Halbschuhe. «Rights for Gays» von John Maus ist so nur noch ein zynischer Dreck.
Innert eines Tages haben sie den Grossteil ihres Publikums verloren. Dafür gewinnen sie neue Hörer: Claudio Zanetti, Rudy Giuliani oder den pelzigen Hornochsen Jack Angeli. Aber der grösste Hornochse bin wohl ich selber, denn sooo überraschend kam das nicht, laut Internet waren die Zeichen von Homophobie, Verschwörungsmist, Coronaleugnung und Trumpismus schon einige Zeit vorhanden. Vielleicht schon vor 2017, als die bislang letzte Ariel-Pink-Platte erschien. Das Beunruhigende an dieser Erstürmung und diesem hippen Faschismus-Chic ist die Attraktivität solcher Events für viele jüngere Leute, die früher automatisch bei der Linken gelandet wären, selbst wenn sie gar nicht links gewesen wären. Aktionismus, Radau, schockieren, «Strasse erobern», in die Räume der Macht eindringen, komische Frisuren, gegen irgendeine Elite, unvernünftig sein, sexuelle Freiheit (des Mannes), illegale Restaurants: Was die Rechten in Übersee anbieten (und vielleicht bald bei uns), ist das Programm von 1968. Mach, was du willst, und vielleicht entsteht dabei noch eine neue Gesellschaft (und ein terroristischer Arm).
Die Linke bietet im politischen Aufmerksamkeits- und Erlebnismarkt in Europa derzeit die Klimademos an; bei aller Aufgeklärtheit, Richtigkeit und Wissenschaftlichkeit letztlich ein fast katholisches Identifikationsprogramm, ein keusches Leben mit Verzicht, mit Dogmen, mit Verboten. Vor allem auch mit Aussicht auf viel harte Arbeit. Ich bin genug alt, um aufseiten der Vernünftigen zu sein, aber Vernunft ist das Gegenteil von Jugend. Ich hoffe schwer auf eine vernünftige Jugend. Fuck Fascism.
Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur.