Auswanderungen: Die Währung der Heimatlosen

Nr. 3 –

Stoff für die Zukunft: Helon Habilas «Reisen» handelt vom grossen Thema unseres Jahrzehnts – der Migration von AfrikanerInnen nach Europa.

Das Wasser hat die Vergangenheit weggespült: Das Médecins-Sans-Frontières-Schiff VOS ­Prudence landet mit MigrantInnen an Bord im italienischen Salerno. Foto: Ivan Romano, Alamy

Dieser Mark passe nicht, teilt die amerikanische Malerin Gina ihrem Ehemann mit. Sie erklärt nicht weiter, warum sie den Mann aus Malawi für ihre Porträtserie «Reisende» nicht malen will. Gina verbringt mit einem Künstlerstipendium ein Jahr in Berlin. Ihr nigerianischer Ehemann, der etwas orientierungslos in seiner Dissertation feststeckt, begleitet sie.

Per Flyer hatte Gina «echte Migranten» als Modelle gesucht. «Wahrscheinlich sah er zu jung aus, war sein Gesicht zu glatt, ohne den Charakter, den nur Zeit und Erfahrung verleihen», vermutet der namenlos bleibende Ehemann, der für einen Grossteil des Romans den Ich-Erzähler stellt. Während die künstlerisch erfolgreiche Gina nur MigrantInnen porträtieren will, die ihrer Vorstellung von Geflüchteten entsprechen, findet ihr Partner, wonach er gar nicht sucht: afrikanische Reisende in Europa, auf deren Leben er sich einlässt.

An die Toilette geklammert

Migration, das Thema unseres Jahrzehnts schlechthin, ist Gegenstand von «Reisen», dem vierten Roman des nigerianischen Schriftstellers Helon Habila, der wie seine Hauptfigur in den USA lebt. Nicht zum ersten Mal bearbeitet der 53-Jährige ein politisch brisantes Thema: In seinem Debütroman «Waiting for an Angel» von 2002 schreibt er über einen Journalisten in Nigeria, der in den neunziger Jahren unter dem Diktator Sani Abacha inhaftiert wurde. «Öl auf Wasser» (2010) handelt von einer Geiselnahme im ölreichen Nigerdelta. Im Sachbuch «The Chibok Girls» von 2017 geht es um die Entführungen von Boko Haram in Nordnigeria. Mit seinem Roman «Reisen» wagt sich Habila nun aus seinem Geburtsland hinaus und folgt, literarisch, afrikanischen MigrantInnen nach Europa.

Eigentlich erzählt uns Habila in «Reisen» nichts Neues. Fluchterlebnisse wie die von Mark aus Malawi, der seine Transidentität daheim nicht leben konnte; des Arztes aus Libyen, der Frau und Sohn im Mittelmeer verloren zu haben glaubt und sie jeden Sonntag am Checkpoint Charlie in Berlin zu treffen hofft; des Lehrers Juma aus Nigeria, der vor religiösen Extremisten fliehen musste; oder des Ladenbesitzers aus Somalia, der seine zehnjährige Tochter vor der Heirat mit einem Rebellenführer rettet und damit seine gesamte Familie für immer entwurzelt.

Laut Autor liegen seinen Erzählungen wahre Begebenheiten zugrunde. Doch Helon Habila, früher Journalist, heute Akademiker, bündelt diese Geschichten in einer passagenweise fast unerträglichen Intensität und Dichte. So lässt er Juma beschreiben, wie er sich an eine Mobiltoilette klammert, nachdem sein Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste gekentert ist: «An mir trieben Menschen kreischend und um sich schlagend vorbei, Kinder und ihre Mütter trieben vorbei, mit dem Bauch nach oben, bevor sie untergingen, Plastikschuhe, Schüsseln, Bücher trieben vorbei und dann war auf einmal alles weg.» Die Beobachtungen aus einem italienischen Flüchtlingslager klingen so: «Manchen verfaulten die Füsse in den nassen Schuhen, manche waren vor Angst irre, weil sie tagelang auf hoher See zwischen Leichen eingequetscht gewesen waren. Bei Schwangeren wurde geprüft, ob das Baby noch am Leben war, wenn nicht, wurden gleich hier Notkaiserschnitte durchgeführt.»

Komplexe Lebenswege

Habila verwebt die Migrationserlebnisse seiner ProtagonistInnen auf eine Art und Weise, wie sie nur Literatur leisten kann: mit Spannung, Überraschung, Intimität, Tragik und auch einer Liebesgeschichte. Am eindringlichsten ist die Passage, in der sich der Ich-Erzähler ohne Pass und Visum in einem Auffanglager auf einer italienischen Insel wiederfindet. Ein unglücklicher Zufall: «Wo bin ich? Wer bin ich? Wie bin ich hierher gekommen?», fragt ein Reisender dort und stellt damit die Grundfragen jeder Existenz.

Habilas Buch bringt ein schlichtes, aber sehr eindringliches Argument vor: Die Lebenswege von Flüchtlingen und Migrantinnen, die Gründe für ihr Handeln sind genauso komplex wie die jedes anderen Menschen auch. Der Arzt Manu will die Erlebnisse der anderen nicht zu genau kennen: «… man glaubt, einen Menschen zu kennen, bis einem eines Tages bewusst wird, dass dies ein Irrtum ist. Erfundene Geschichten sind die Währung unter den Heimatlosen, den Entwurzelten, werden dargeboten wie ein entwaffnender Händedruck.» Vor zu viel Nähe zu den Geflüchteten hütet er sich: «Sie sind hier, weil sie einen Neuanfang wagen wollen und nicht, um die Vergangenheit zu wiederholen oder sich an sie zu klammern. Das Wasser, das sie alle überschritten haben, um hierherzukommen, hat die Vergangenheit weggespült.»

Habila will nicht moralisieren. Sein Roman ist unprätentiös und intelligent, die Sprache klar und ohne Schnörkel. Unverständlich ist allerdings, warum der Verlag den Titel «Reisen» für seine deutsche Übersetzung wählte. Im Original heisst der Roman «Travelers», Reisende, was eine Verbindung zur Porträtreihe der Malerin Gina schafft. Auch angesichts dessen, dass es im Buch nahezu ausschliesslich um Lebensgeschichten von Menschen geht, passt das viel besser.

Helon Habila: Reisen. Aus dem Englischen von Susann Urban. Verlag Afrika Wunderhorn. Heidelberg 2020. 320 Seiten. 39 Franken