Corona-Massentests: Peyers Weg

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Lange interessierte sich die Schweiz nicht dafür, wie Graubünden die Pandemie bekämpft. Jetzt gilt das Bündner Modell als Vorbild. Was macht der Bergkanton richtig?

«Sonst gibts nur eine Lösung: alles zumachen. Und das wäre totalitär»: Anstehen bei einem Covid-19-Flächentest in Zuoz. Foto: Gian Ehrenzeller, Keystone

Die Bewältigung der Coronapandemie in der Schweiz ähnelt oft einem schrägen föderalistischen Wettbewerb. Es gibt die Streberkantone, zuvorderst Basel-Stadt, das seine Beizen schon zumachte, bevor es alle andere taten, und auch beim Impfen wieder Erster sein will. Am anderen Ende des Spektrums findet sich der Kanton St. Gallen wieder. Dort hat sich um CVP-Gesundheitsdirektor Bruno Damann eine illustre Runde aus Medizin und Medien geschart, die ihre Bevölkerung selbstgefällig ins pandemische Verderben steuerte.

Ein schnelles Testregime

Nochmals ganz woanders steht Graubünden. Der Bergkanton verfolgt schon lange eine eigene Strategie. Bislang spielte er ausser Konkurrenz, weil er jenseits der Dialektik des Lockerns und Schliessens nach Lösungen suchte. Jetzt aber hat ihn der Bundesrat zum Vorbild erklärt. Die Corona-Massentests, die Graubünden seit Mitte Dezember vornimmt und seither klug ausgeweitet hat, sollen auch andere Kantone in ihr Repertoire aufnehmen. Dafür beteiligt sich der Bund an der Finanzierung von Testreihen für asymptomatische BürgerInnen. «Es hat ein bisschen gedauert, bis sich der Bund ernsthaft für unser Testprogramm interessiert hat», sagt Peter Peyer, Bündner Gesundheitsdirektor. Zufrieden stellt er fest: «Die Skepsis ist einer gewissen Offenheit gewichen.»

Während andere Kantone bald den BündnerInnen folgen dürften, ist Peyer bereits ein paar Schritte weiter. Bald starten im Kanton weitere gross angelegte Flächentests. Damit sollen noch stärker jene Übertragungsketten entdeckt und unterbrochen werden, die von Infizierten ohne Krankheitssymptome ausgehen. In der Region Bernina, in der die Bevölkerung seit Mitte Dezember regelmässig zum Testen eingeladen wird, gelang es so, die Ansteckungszahlen dauerhaft stark zu senken.

Schulen und Altersheime werden bereits heute konsequent durchgetestet, künftig sollen auch private Unternehmen ihren MitarbeiterInnen regelmässige Kontrollen ermöglichen. Ein unkomplizierter, von einem Laaxer Pistenbaron mitentwickelter Spucktest soll die breitflächigen Coronakontrollen in den Firmen ermöglichen. Die wichtigste Errungenschaft aus der Testoffensive laut Peyer: «Wir können innert weniger Stunden ein Regime auffahren, um viele Leute zu testen.» So sollen Coronaausbrüche wie zuletzt in St. Moritz rasch unter Kontrolle gebracht werden.

Warum, fragt man sich, hat die Schweiz nicht schon viel früher nach Chur geblickt?

Ungewöhnlich wie der Bündner Weg ist auch der Weg Peter Peyers. Der 55-jährige SPler ist ein atypischer Politiker. Als erster Mann im Kanton liess er sich einst zum Kindergärtner ausbilden. Einige Jahre arbeitete er im Beruf, dann wechselte er zur Gewerkschaft. 2018 setzte er sich bei der Kandidatenkür für den Regierungsrat parteiintern überraschend durch, die Volkswahl danach gelang problemlos. Format im Amt entwickelte er während der Pandemie. Im Sommer, als viele Hürden gegen das Virus fielen, stand Peyer hin und sagte: «Es ist nicht vorbei.» Er äusserte sich irritiert über volle Gartenbeizen, forderte eine Ausdehnung der Maskenpflicht, kritisierte, wie freizügig wieder Grossveranstaltungen zugelassen wurden.

Daneben baute der Kanton die Strukturen für die erwartete zweite Welle auf. Das Contact Tracing, sagt Peyer, sei bis auf wenige Tage im Oktober immer nachgekommen. Die Ruhe im Sommer und Frühherbst empfand er als trügerisch. Peyer verweist auf seine enge Arbeitsgemeinschaft mit Kantonsärztin Marina Jamnicki, dem Leiter des Gesundheitsamts, Rudolf Leuthold, und dem Chef des Krisenstabs, Martin Bühler: «Wir haben immer die Zahlen angeschaut. Wir wussten, dass eine Pandemie in Wellen verläuft, wir wussten im Sommer auch schon, dass andere Länder einen zweiten Infektionsschub erlebten. Warum hätte es bei uns anders verlaufen sollen?»

Nicht frei von Risiken

Das Bündner Pandemiemanagement beruht auf Daten. Man habe rasch gemerkt, dass es zentral sei, die Ansteckungsorte zu identifizieren, Ausbrüche rasch zu entdecken und einzudämmen. «Sonst gibts nur eine Lösung: alles zumachen. Und das wäre totalitär», sagt Peyer. Als im Südtirol erste Flächentests angeordnet wurden, schaute Graubünden genau hin und übernahm die Strategie. Die Überlegung sei auch gewesen, räumt Peyer ein, möglichst günstige Grundlagen für die Skisaison zu schaffen.

Für den Skibetrieb erfuhr auch Graubünden Kritik. Der Gesundheitsdirektor störte sich vor allem an den Belehrungen aus anderen Landesteilen: «Wir haben uns auch nicht über die Menschenmassen in der Zürcher Bahnhofstrasse beklagt.» Die Schutzkonzepte würden funktionieren, beteuert er. Der Ausbruch in Luxushotels in St. Moritz? «Betraf vor allem das Personal, vermutlich passierten die Ansteckungen in den Personalhäusern.» Warum wiegen Geschäftsinteressen schwerer als die Gesundheit der Angestellten? «Es ist ein Dilemma. Aber wenn wir alles zutun, haben die Leute keine Arbeit mehr.»

Peter Peyer, Bündner Gesundheitsdirektor

Der Bündner Weg ist nicht frei von Risiken und Widersprüchen. Kantonsärztin Jamnicki sprach im «Bündner Tagblatt» von einem «Logikbruch», dass die Pisten offen seien, aber etwa Hallenbäder geschlossen. «Auch so ein Dilemma», sagt Peyer. «Aber ohne geht es nicht in einer Pandemie.»