Durch den Monat mit Sibel Arslan (Teil 1): Wann ist etwas ein Erfolg?

Nr. 5 –

Die Basler Nationalrätin Sibel Arslan über langwierige Anliegen, fordernde MigrantInnen und Kurkumasetzlinge auf dem Balkon.

Sibel Arslan: «Als linke Politikerin muss man sich dar­an gewöhnen, regelmässig zu verlieren. Trotzdem habe ich das Gefühl, zumindest schrittweise weiterzukommen.»

WOZ: Frau Arslan, genau in der Woche, in der sich die Einführung des Frauenstimmrechts zum 50. Mal jährt, nimmt die Ständeratskommission Ihren Vorstoss zum Stimmrechtsalter sechzehn an. Ein Zufall?
Sibel Arslan: Ja. Ein noch grösserer Zufall ist, dass dieser für die Demokratie so wichtige Beschluss fast auf den gleichen Tag fällt, an dem vor 62 Jahren die Einführung des Frauenstimmrechts zum ersten Mal an der Urne gescheitert ist.

Also zugleich ein historisches und für Sie günstiges Datum, denn es scheint bisher Ihr grösster Erfolg auf parlamentarischer Ebene zu sein.
Wann ist denn etwas ein Erfolg?

Was finden Sie?
Hatte der Bundesrat beispielsweise Erfolg mit der Art und Weise, wie er die Konzernverantwortungsinitiative verhindert hat?

Justizministerin Karin Keller-Sutter ist bestimmt dieser Meinung.
Ich halte es stattdessen für einen Erfolg, dass die Linke für dieses Thema eine so breite Zustimmung in der Bevölkerung erreichte. Natürlich haben wir die Abstimmung nicht gewonnen, und klar hätte ich mir ein anderes Resultat gewünscht. Aber wenn man sich die Zusammensetzung des Bundesparlaments anschaut, muss man sich als linke Politikerin daran gewöhnen, regelmässig zu verlieren. Trotzdem habe ich das Gefühl, zumindest schrittweise weiterzukommen. Das ist wie beim Frauenstimmrecht, wo die gleichen Argumente jahrelang wiederholt werden mussten.

Das heisst, prinzipiell lässt sich jede vermeintlich linke Forderung auch in der Schweiz realisieren – es dauert einfach unter Umständen fünfzig bis hundert Jahre länger als anderswo?
Ja, leider. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Etwa das der Ehe für alle, die erstmals 1998 von der damaligen Grünen-Nationalrätin Ruth Genner eingebracht wurde. Es dauerte 22 Jahre, bis sich auch die Bürgerlichen mit dem Thema angefreundet hatten und das Anliegen im Parlament eine Mehrheit fand.

Zurück zum Stimmrechtsalter: Sehen Sie es denn nun als Erfolg an, dass Ihr Vorstoss in beiden Räten angenommen wurde?
Ja. Der tatsächliche Erfolg war, dass ich bei allen Parteien ausser der SVP Leute gefunden habe, die bereit waren, dieses Anliegen mitzutragen. Und die es mir gönnten, dass mein Name unter dem Antrag steht.

Klingt, als wäre das nicht selbstverständlich.
Leider nicht. Auch unter Linken und unter linken Frauen kann die gegenseitige Anerkennung und Unterstützung verbessert werden. Wenn wir über das Frauenstimmrecht sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass viele Frauen ihren Karriereambitionen nachgehen können, weil migrantische Frauen für sie Haus- und Care-Arbeit leisten. Leider sind auch in linken Kreisen MigrantInnen häufig nur erwünscht, solange sie abhängig sind. Ich wünsche mir deshalb mehr Sensibilisierung, insbesondere bei Mehrfachdiskriminierung.

Fünfzig Jahre Frauenstimmrecht sind für Sie also kein Grund zum Feiern?
Eher ein Anlass zum Reflektieren. Ich freue mich natürlich darüber, dass Frauen immer zahlreicher im Parlament vertreten sind, aber im Vergleich zur Bevölkerung sind es immer noch zu wenige. Zugleich sollten wir uns fragen, ob es noch mal fünfzig Jahre dauern muss, um andere Demokratiedefizite auszugleichen. Oder ob das Parlament die Vielfalt der Gesellschaft vielleicht schneller besser abbilden könnte. Deshalb lancieren wir Grünen im März einen neuen Vorstoss zur Einführung eines AusländerInnenstimmrechts.

Wäre es nicht gerechter, man würde die Einbürgerungspraxis ändern, anstatt ein oftmals mit hohen Hürden verbundenes und eingeschränktes Stimmrecht zu forcieren?
Natürlich befürworte ich auch die automatische Einbürgerung bei der Geburt, doch das betrifft kaum fünf Prozent der hier lebenden AusländerInnen. Unser Vorschlag ist: Alle, die fünf Jahre hier leben, sollen mitbestimmen können. Das ist ein Fünftel der EinwohnerInnen der Schweiz. Schon seit langem wünsche ich mir zudem einen Paradigmenwechsel: Im Bereich Migration wird fast immer nur auf Negatives reagiert. Es gab bisher einfach noch zu wenige Mutige, die progressive Forderungen stellen und diese unermüdlich wiederholen. Nur so kann eine Idee wachsen und gedeihen – wie die Pflanze im Topf vor meinem Fenster.

Was ist das für eine Pflanze?
Das ist Kurkuma, ich hatte eine Knolle zum Kochen gekauft und liegen gelassen, irgendwann schlug sie aus. Und nun wachsen fünf Setzlinge. Obwohl mir zuerst niemand glaubte, dass in dem Topf überhaupt etwas lebt.

Das ist jetzt fast etwas zu schön, um wahr zu sein: der Setzling als Metapher für Ihre politische Arbeit, eine Pflanze, passend zur grünen Fraktion … Haben Sie das vorbereitet?
Auch wenn ich das hätte – im Leben kommt es sowieso immer anders, als man sich das vorstellt oder plant. Dinge beobachten, lernen, Schlüsse daraus ziehen, das ist meiner Meinung nach alles, was wir tun können.

Als Sibel Arslan (40) nach ihrer Einbürgerung im Jahr 2004 das erste Mal wählen konnte, durfte sie sich gleich selbst ins Basler Kantonsparlament wählen.