Gesundheit in Grossbritannien: Das Ende der Vermarktung
Die erfolgreiche Impfkampagne zeigt einmal mehr, wie effizient das staatliche Gesundheitssystem sein kann. Sogar die rechten Tories wollen es nun nicht mehr privatisieren.
Endlich eine Statistik, über die sich die BritInnen freuen können. Monatelang gab es nur entmutigende Updates über Coronaneuinfektionen, Hospitalisierungen und Todesfälle. Seit Beginn der Impfkampagne im Januar ist eine tägliche Dosis Hoffnung hinzugekommen. Jeden Tag werden über 350 000 Personen geimpft – das Land, das sehr stark von der Pandemie getroffen wurde, findet sich auf einmal in der ungewohnten Rolle des europäischen Spitzenreiters wieder. Bereits über siebzehn Millionen Menschen haben eine erste Impfung erhalten, das sind mehr als ein Viertel der Bevölkerung.
Der Erfolg der Kampagne ist zwei Umständen zu verdanken: erstens der staatlichen Bereitschaft, Geld in die Entwicklung und den Kauf von Vakzinen zu investieren. Zweitens der Effizienz des Gesundheitssystems National Health Service (NHS). Hier hat die Regierung aus früheren Fehlern gelernt. Denn zu Beginn der Pandemie wurden beispielsweise beim Aufbau des Contact-Tracing-Systems kaum lokale Gesundheitsbehörden eingebunden. Stattdessen engagierte die Regierung Privatkonzerne ohne jegliche Erfahrung – mit katastrophalen Ergebnissen: Bis November fanden die Contact Tracer lediglich die Hälfte der Personen, die mit Covid-19-Infizierten zu tun gehabt hatten. Das Magazin «New Statesman» bezeichnete diesen Vorgang als «ein Symbol für Inkompetenz und Geldverschwendung».
Zurück zum Bewährten
Jetzt verlässt sich das Gesundheitsministerium bei der Impfkampagne auf bereits vorhandene Strukturen. Simon Stevens, Chef des NHS, spannte bestehende lokale Netzwerke von Hausarztpraxen, Apotheken und Pflegediensten ein. Diese wurden verpflichtet, den Grossteil der Impfungen vorzunehmen und entsprechende Zentren einzurichten. Die PatientInnen werden direkt von ihrem Hausarzt kontaktiert, eine Registrierung wie in der Schweiz ist nicht nötig. Insgesamt gibt es in Grossbritannien 1500 Impfzentren, ungefähr 30 000 Freiwillige helfen bei der Kampagne mit.
Die Pandemie hat dem guten Ruf des Gesundheitsdienstes einen kräftigen Schub verliehen. Seit Jahrzehnten gehört der NHS zu den beliebtesten Institutionen des Landes. Aber nach dem pausenlosen Einsatz der MitarbeiterInnen im vergangenen Jahr und der erfolgreichen Impfkampagne haben die BritInnen «ihren» NHS noch lieber gewonnen als zuvor. Landesweit sind selbstgemachte Poster an Fenstern zu sehen, auf denen «Thank you NHS» steht. Selbst manche konservative PolitikerInnen sind zur Einsicht gekommen, dass das staatliche, steuerfinanzierte System nichts weniger braucht als eine Privatisierung und Vermarktung.
Genau diese Privatisierung versuchen seit über dreissig Jahren neoliberale PolitikerInnen von den konservativen Tories wie auch von der sozialdemokratischen Labour-Partei in die Wege zu leiten. Sie hatten sich darangemacht, den NHS gemäss ihren wirtschaftsliberalen Rezepten umzukrempeln, etwa mit der Einführung eines sogenannten internen Markts. Dieser sollte den Wettbewerb unter den einzelnen Gesundheitsanbietern stärken, so sollten etwa Spitäler untereinander konkurrieren. Zudem sind im Lauf der Jahre immer mehr Sparten des Dienstes privatisiert worden, etwa im Pflegebereich.
Weniger Konkurrenz
Der letzte Schritt auf diesem Weg war das Gesundheitsgesetz aus dem Jahr 2012, das die Rolle privater Konzerne stärkte und den Wettbewerb fördern sollte. Doch die Folgen der Reform waren «eine Fragmentierung (des NHS), die Abschaffung von Dienstleistungen sowie demoralisierte Mitarbeiter», wie der Arzt Roy Robertson letztes Jahr im «Guardian» schrieb.
Das haben offenbar auch die regierenden Tories gemerkt. Vor zwei Wochen veröffentlichte das Gesundheitsministerium eine neue Gesetzesvorlage, die einen guten Teil der Reformen von 2012 rückgängig machen soll. In der Pandemie habe man gesehen, «was wir leisten können, wenn wir zusammenarbeiten», sagte Gesundheitsminister Matt Hancock. So soll in Zukunft auf den forcierten Wettbewerb verzichtet und stattdessen die Zusammenarbeit innerhalb des NHS gestärkt werden.
Der Vorstoss ist auch ein Eingeständnis, dass die neoliberale Umformung des NHS nur negative Auswirkungen hatte. Mit ihrem jetzigen Schritt hat die Regierung die Bevölkerung auf ihrer Seite: Laut einer Umfrage aus dem vergangenen Sommer wollen 76 Prozent der BritInnen, dass der NHS wieder vollumfänglich in staatliche Hand übergeben wird.