Arbeitskampf im Gesundheitswesen: «Toll, dass ich in Grossbritannien lebe»
Das britische Gesundheitssystem steckt in der Krise. Das vorbildliche Solidaritätsprinzip, auf dem der National Health Service gründet, ist bedroht. Der Streik der Assistenzärzt:innen sei entscheidend, um ein Zweiklassensystem zu verhindern, sagen Gewerkschafter und Aktivistinnen.
Vier Tage vor Weihnachten steht Doktor Meyerson am Streikposten und gibt Instruktionen. «Jetzt ruft mal: Was wollen wir? Faire Bezahlung! Wann? Jetzt!» Die etwa fünfzig Assistenzärzt:innen, die sich vor dem University College Hospital im Londoner Zentrum aufgestellt haben, brüllen los. Sie wissen mittlerweile, wie das geht. Seit über einem Jahr dauert der Disput zwischen der Regierung und den englischen «junior doctors» an, heute ist der 26. Streiktag. Die Ärzt:innen fordern eine Lohnerhöhung von satten 35 Prozent – der Ärzteverband British Medical Association (BMA) hat ausgerechnet, dass es so viel brauche, um die Einbussen der vergangenen fünfzehn Jahre wettzumachen.
Liebe auf den ersten Blick
Eigentlich gehe es beim Streik um viel mehr, erklärt der Arzt Andrew Meyerson, ein 41-jähriger Mann mit Stoppelbart und runder Brille: Die gesamte Zukunft des britischen Gesundheitsdiensts, des National Health Service (NHS), stehe auf dem Spiel. «Wir sehen derzeit den grössten Angriff auf den NHS seit seiner Gründung vor 75 Jahren.»
Als Meyerson 2015 aus den USA nach Grossbritannien kam, war er vom britischen Gesundheitssystem tief beeindruckt. «Als Patient stellte ich mit Verblüffung fest, dass meine gesamten Gesundheitskosten durch meine Steuern gedeckt sind», sagt er. «Und ich liebte es, dass ich eine Patientin behandeln konnte und mit ihr nicht über Geld reden musste.»
In seiner Heimat ist das ganz anders. Meyerson wurde in Baltimore an der amerikanischen Ostküste geboren. Er wuchs in einer «healthcare family» auf, wie er sagt. «Mein Vater ist Arzt, meine Mutter Sprachtherapeutin, mein Bruder Rettungssanitäter und meine Schwester Rabbinerin und Seelsorgerin in einer Palliativstation in New York», erzählt er. Entsprechend weiss er, wie das US-Gesundheitssystem funktioniert – oder eben nicht. «Ich bin aufgewachsen mit Geschichten von Leuten, auch Verwandten und Bekannten, die wegen Arztrechnungen in den Bankrott getrieben wurden.» Das System sei einzig und allein darauf ausgerichtet, den Krankenversicherungen Profit zu bringen. «Patienten werden abgezockt und ruiniert, damit einige Leute reich werden können. Es ist ein schreckliches System.»
Effizient und solidarisch
«Der Kern eines guten Gesundheitsdiensts besteht darin, dass Armut keine Behinderung darstellt und dass Reichtum nicht bevorzugt wird», sagte Gesundheitsminister Aneurin Bevan, als er den National Health Service (NHS) 1948 aus der Taufe hob. Der NHS wird fast ausschliesslich durch Steuern finanziert – lediglich ein Prozent der Einnahmen stammt aus Gebühren, die die Patient:innen direkt zahlen, etwa für Rezepte oder Zahnbehandlung. Auch Migrant:innen, die ein Arbeitsvisum benötigen, müssen eine jährliche NHS-Gebühr entrichten.
Gesundheitsversorgung ist ein dezentralisiertes Ressort: Schottland, Wales und Nordirland haben ihre eigenen NHS-Organisationen, die britische Regierung ist nur für den NHS England zuständig. Dieser beschäftigt rund 1,5 Millionen Menschen und verfügt über ein jährliches Budget von etwa 180 Milliarden Pfund. Im Vergleich zu den Gesundheitsdiensten anderer Länder ist der NHS eher sparsam: Vor der Pandemie flossen in Grossbritannien 9,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts in die Gesundheit, weniger als der Durchschnitt westlicher Länder. Laut einer Umfrage vom Juli 2023 wollen 83 Prozent der Bevölkerung, dass der NHS steuerfinanziert bleibt.
Meyerson zog nach Grossbritannien, um sich zum Arzt ausbilden zu lassen. Was den NHS betrifft, war es Liebe auf den ersten Blick. Keine Krankenversicherung, keine schwierigen Gespräche über Geld, keine Ungleichbehandlung wegen Armut oder Reichtum: Wer behandelt werden muss, wird behandelt, und zwar kostenlos (vgl. «Effizient und solidarisch»).
Dass das NHS-Prinzip funktioniert, bestätigen auch Akademiker:innen. 2014 kam ein internationaler Expertenausschuss zum Schluss, dass Grossbritannien von elf untersuchten westlichen Ländern das beste Gesundheitssystem hat – die USA kamen als Schlusslicht auf Platz elf. Im Bericht schneidet der NHS punkto Qualität, Effizienz, Sicherheit und Zugang zur Gesundheitsversorgung am besten ab. Auch 2017, als die Studie wiederholt wurde, war der NHS die Nummer eins. Aber dann ging es schnell bergab. 2021 war Grossbritannien auf Platz vier abgerutscht.
Meyerson glaubt, dass es seither noch schlimmer geworden ist: «In mancher Hinsicht ist unsere Gesundheitsversorgung derzeit unter den schlechtesten in Europa.» Er hat den Zerfall aus nächster Nähe erlebt. «Die Qualität der Behandlung hat in den vergangenen zehn Jahren drastisch abgenommen», sagt er. Der Grund: Personalmangel und schrumpfende Ressourcen. Sie bringen die Spitäler regelmässig an ihre Kapazitätsgrenzen – und darüber hinaus.
Meyerson arbeitet in der Notaufnahme eines Spitals im Osten Londons. Mit der alltäglichen Hektik würde er unter normalen Umständen klarkommen. «Wenn uns die Ärzt:innen und Pfleger:innen fehlen, so wie jetzt, können wir erstens die Leute nicht schnell genug behandeln, und zweitens verlieren wir den Überblick darüber, wer in welcher Verfassung eingeliefert worden ist und wie häufig die Vitalzeichen kontrolliert werden müssen.»
Unterdessen stauen sich draussen die Rettungsfahrzeuge. «Vor jeder Notaufnahme in England stehen die Ambulanzen Schlange und warten verzweifelt darauf, ihre Patient:innen einliefern zu können», sagt Meyerson. «Aber wir haben nicht genügend Betten, um sie aufzunehmen. Die Verzögerungen sind in vielen Fällen tödlich.»
Die Schuld der Tories
Meyersons Erfahrungen lassen sich auf den gesamten englischen NHS übertragen. Insgesamt sind derzeit etwa 112 000 Stellen unbesetzt – es fehlen Ärztinnen, Pfleger, Hebammen, Rettungssanitäter, Therapeutinnen und technisches Personal. Die Zahl der Spitalbetten hat sich innert dreissig Jahren halbiert; es bleiben rund 2,4 Betten pro 1000 Einwohner:innen – weit unter dem OECD-Durchschnitt. Der NHS verfügt auch über weniger CT- und MRI-Scanner als die Gesundheitsdienste vergleichbarer Länder. «Vom Moment, in dem jemand die Ambulanz ruft, bis zur Entlassung aus dem Spital: Auf jeder Stufe dieses Prozesses fehlen uns die Mitarbeitenden und die Mittel», sagt Meyerson.
Wie gross der NHS-Notstand ist, lässt sich anhand einiger Statistiken veranschaulichen. 7,7 Millionen Menschen warten derzeit auf eine Routinebehandlung – ein absoluter Rekord. Die Sterblichkeit bei Brust-, Darm- oder Lungenkrebs, bei Herzattacken und Gehirnschlägen ist unter den höchsten in der westlichen Welt. Im vergangenen Winter schätzte der Verband der Notfallmediziner:innen, dass jede Woche zwischen 300 und 500 Patient:innen wegen Engpässen in den Notaufnahmen sterben. Das belastet auch die Angestellten: Fälle von Burn-out und Depression haben zugenommen, die Suizidrate unter Ärzt:innen ist hoch. Erst vor wenigen Monaten musste Andrew Meyerson selbst zum Begräbnis eines Kollegen, der sich das Leben genommen hatte.
Wenn Meyerson über den bröckelnden NHS spricht, versucht er gar nicht erst, seine Bestürzung zu verbergen. Seine Tweets über die NHS-Krise und den Ärztestreik beginnt er oft mit den Worten «Liebes Grossbritannien» – vielleicht hofft er, dass man den Warnungen eines Aussenstehenden mehr Beachtung schenkt. Was die Ursache für die Krise ist, darüber hat er keinen Zweifel: «Dreizehn Jahre Tory-Sparpolitik.»
Erneut ist ein Blick in die Zahlen aufschlussreich. In den Jahren der letzten Labour-Regierung, von 1997 bis 2010, wurde das NHS-Budget jährlich um 5,5 Prozent angehoben, deutlich mehr als in den zwei Jahrzehnten zuvor. Die Finanzspritze zeigte schnell Wirkung, besonders in den Spitälern: mehr Mitarbeiter:innen, besser bezahlte Fachkräfte, kürzere Wartezeiten, bessere Pflege und Infrastruktur – so das Fazit des Rechnungshofs National Audit Office.
Aber als die konservative Partei 2010 an die Macht kam, zückte ihre Regierung den Rotstift. Im folgenden Jahrzehnt wuchs das Budget im Schnitt um mickrige 1,4 Prozent pro Jahr. Es dauerte nicht lange, da wurden die Wartezeiten länger, die Qualität der Pflege nahm ab, und die Löhne sanken – das wiederum hatte zur Folge, dass viele aus dem NHS ausstiegen und einen besser bezahlten und weniger stressigen Job suchten. Der Brexit 2016 machte alles noch schlimmer: Tausende EU-Bürger:innen verliessen das Land, was die Personalprobleme verschärfte, vor allem in der Pflege. Als Anfang 2020 das Covid-Virus nach Grossbritannien übersprang, traf es auf einen NHS, der überfordert war. Die Pandemiejahre brachten ihn an den Rand des Abgrunds.
Andrew Meyerson ist sich sicher, dass all das nicht beiläufig geschehen ist: Es sei ein bewusster politischer Entscheid gewesen, den NHS kaputtzusparen. «So sollen die Leute ins private Gesundheitssystem geschubst werden.»
Manche Tories sahen im NHS schon immer eine Zumutung. Ein Überbleibsel aus der sozialdemokratischen Nachkriegszeit, bevor 1979 Margaret Thatcher Premierministerin wurde und den Service public zurechtzustutzen begann. Die «Iron Lady» wollte auch den Gesundheitsdienst privatisieren. Aber als sie dem Kabinett ihren Plan unterbreitete, löste sie damit fast einen Krawall aus, wie der damalige Energieminister Nigel Lawson sagte. Schnell ruderte Thatcher zurück: «Der NHS ist bei uns in sicheren Händen.»
Das ist auch heute noch das Mantra. Denn trotz aller Probleme hängen die Brit:innen am NHS, in Umfragen sprechen sich regelmässig grosse Mehrheiten für den Beibehalt des staatlichen Dienstes aus. Offene Forderungen nach einer Privatisierung verbieten sich deshalb jeder Politikerin, die ihre Karriere nicht vorzeitig beenden will. So entschieden sich die NHS-Reformer:innen für eine andere Methode: Salamitaktik. In kleinen Schritten sind Teile des Gesundheitsdiensts in den vergangenen dreissig Jahren privatisiert worden.
Zuerst kam der interne Markt, der die einzelnen Spitäler in Konkurrenz zueinander setzte. Dann, unter Tony Blairs Labour-Regierung ab 1997, wurden zahlreiche neue private Behandlungszentren gebaut, darunter Spitäler, Diagnose- oder Bildgebungszentren. Und zuletzt haben private Gesundheitskonzerne Dutzende Arztpraxen aufgekauft.
Die profitorientierten Behandlungszentren sind von staatlichem Geld abhängig: NHS-Institutionen, denen die Kapazität fehlt, überweisen Patient:innen an private Institutionen und bezahlen diese dafür. Besonders profitabel ist dies etwa für Psychiatrien: Der NHS zahlt jährlich rund zwei Milliarden Pfund an den Privatsektor, das ist mehr als ein Achtel der Summe, die der Staat für die psychische Gesundheit ausgibt.
Warum ist das ein Problem? «Aus einer ganzen Reihe von Gründen», sagt Hope Worsdale. Die 28-Jährige ist eine altgediente Aktivistin, das merkt man schon an ihrer Art, Antworten mit allerhand Daten zu unterfüttern und Einwände routiniert beiseitezuwischen. Während ihres Studiums engagierte sie sich gegen Studiengebühren und die Vermarktung des Bildungssystems. Mittlerweile hat sich ihr Fokus auf die Gesundheit verschoben. Worsdale arbeitet für Just Treatment, eine vor fünf Jahren gegründete Kampagne, die sich dafür einsetzt, dass alle Bürger:innen Zugang zu einer erstklassigen Gesundheitsversorgung haben. Ziel ist es, eine Art Bewegung der NHS-Patient:innen aufzubauen, um der Privatisierung des Gesundheitssystems entgegenzuarbeiten.
Vom Barhocker gekippt
«Viele Leute haben das Gefühl, das Wort ‹Patient:in› treffe nicht auf sie zu, weil sie nicht damit rechnen, krank zu werden. Aber früher oder später werden wir alle NHS-Patient:innen sein.» Selbst gesunde Junge: Vorletztes Jahr bekam Hope Worsdale im Ausgang einen so heftigen Lachanfall, dass sie die Balance verlor, vom Barhocker kippte und auf den Boden krachte. Ihr Arm war an drei Stellen gebrochen. «In der Notaufnahme dachte ich: Meine Güte, fünfzehn Leute flicken mich gerade zusammen, und ich muss keinen Penny dafür bezahlen. Wie toll, dass ich hier in Grossbritannien lebe.»
Aber die schleichende Privatisierung der Gesundheitsversorgung bereitet ihr Sorge. «Erstens bildet der Privatsektor kein Gesundheitspersonal aus – er schnappt sich Fachleute, die im NHS ausgebildet wurden, und spart so haufenweise Geld.» Auch spezialisieren sich die profitorientierten Behandlungszentren auf unkomplizierte Fälle, etwa Knie- oder Hüftoperationen. «Die schwierigen, aufwendigen Fälle hingegen, die weniger lukrativ sind, überlassen sie dem NHS», sagt Worsdale. Zudem gibt es Bedenken über die Qualität der Pflege: 2022 ergab eine im Fachjournal «The Lancet» publizierte Studie, dass die Auslagerung medizinischer Behandlung an den Privatsektor mit mehr Todesfällen bei behandelbaren Krankheiten korreliert. Das sei «möglicherweise eine Folge der abnehmenden Qualität der Gesundheitsversorgung». Worsdale überrascht das nicht: «Wenn das Profitmotiv an erster Stelle steht, dann spart man bei der Sicherheit der Patient:innen.»
Trotzdem setzt die Regierung zunehmend auf den Privatsektor. Derzeit erlebt er einen richtigen Boom, und zwar gerade weil der NHS mit so grossen Problemen kämpft. Denn Ende 2022 kündigte die Regierung an, dass der Einsatz von Privatspitälern «auf Touren gebracht» werden solle, um die ausstehenden Behandlungen zu bewältigen. Eine Studie des Onlinemediums «Open Democracy» ergab im April 2023, dass das Gesundheitsministerium im Vorjahr eine halbe Milliarde Pfund an Gesundheitskonzerne überwiesen hatte. Darunter sind auch australische und US-amerikanische Firmen, die in Grossbritannien Spitäler und Behandlungszentren betreiben. Gebracht hat es jedoch nicht viel: 2022 wurden trotzdem 6,6 Prozent weniger Patient:innen behandelt als im Jahr vor der Pandemie.
Hope Worsdale sagt, die fortlaufende Privatisierung gründe nicht nur auf Ideologie, also auf der Abscheu vor einer staatlichen Gesundheitsversorgung. Ebenso seien handfeste Interessen im Spiel: «Es gibt unzählige enge Beziehungen – persönliche wie finanzielle – zwischen Gesundheitskonzernen und gewählten Politiker:innen.» Seit der Pandemie sind viele dieser Verbindungen ans Licht gekommen. Der «Daily Mirror» hat letztes Jahr mehr als zwei Dutzend Tory-Parlamentsabgeordnete ausgemacht, die als Direktoren, Aufsichtsräte oder Beraterinnen von Gesundheits- und Pharmakonzernen aktiv sind. «Diese Leute sind sich wohl bewusst, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Unterfinanzierung des NHS und der erweiterten Rolle des Privatsektors gibt», sagt Worsdale. «Der Boom der privaten Gesundheitskonzerne ist davon abhängig, dass der NHS vor die Hunde geht.»
Es ist die altbewährte Methode der Privatisierung, wie sie der US-amerikanische Publizist und Aktivist Noam Chomsky beschrieben hat: Man zieht einer staatlichen Organisation das Geld ab und stellt sicher, dass sie nicht funktioniert – und wenn die Leute darüber richtig frustriert sind, verscherbelt man die Organisation an den Privatsektor. Worsdale sorgt sich, dass es beim NHS funktionieren könnte. Zumindest gibt es erste Anzeichen: Die Zahl der Brit:innen, die sich privat versorgen lassen, ist zuletzt deutlich angestiegen.
«Wir sind mit unzähligen Patient:innen in Kontakt, die Tausende, manchmal mehr als 10 000 Pfund aus ihrem eigenen Portemonnaie bezahlt haben, um sich lebensrettenden Operationen und Behandlungen zu unterziehen», sagt sie. Dies sei für viele ein enormes finanzielles Risiko, aber sie hätten keine andere Wahl: «Auf eine staatliche Behandlung müssten sie Monate, sogar Jahre warten. Aber sie wollen einfach, dass die Schmerzen aufhören.»
So haben im Jahr 2022 rund 272 000 Patient:innen in ihre eigene Tasche gegriffen, um sich behandeln zu lassen – 2019 waren es noch 199 000 gewesen. Bereits vor einem Jahr sprach der Vorsitzende des Gesundheitskonzerns Spire von «beispielloser Nachfrage» nach privater Behandlung. Aber das können sich freilich nicht alle leisten. «Es droht sich ein zweistufiges Gesundheitssystem herauszubilden», sagt Worsdale. «Wer das Geld hat, geht zu den Privaten, und alle anderen stecken auf der Warteliste fest.»
Wäre Labour besser?
Was Aktivist:innen wie Hope Worsdale besonders bedenklich finden: Die Labour-Partei, die wohl die nächsten Wahlen gewinnen wird, hat nicht vor, die Privatisierung zurückzurollen. Wes Streeting, in der Oppositionspartei Sprecher für Gesundheitspolitik und mit grosser Wahrscheinlichkeit der nächste Gesundheitsminister, sagte im November, er wolle «dem Privatsektor die Tür weit offen halten». «Das wäre ein Desaster», sagt Worsdale.
Der Widerstand gegen die Sparkeule und die Privatisierung muss also von woanders kommen: von der Strasse, den zahlreichen Kampagnen für einen öffentlichen Gesundheitsdienst und von den Gewerkschaften. «Bezahlt die Ärzte ordentlich, rettet unseren NHS», liest man auf einem selbstgemalten Schild am Streikposten vor dem University College Hospital. Das ist ein zentrales Argument der Streikenden: Die Löhne der NHS-Mitarbeiter:innen und die Zukunft des Gesundheitsdiensts sind untrennbar miteinander verbunden. «Wir müssen zurück zu dem Punkt kommen, wo wir für unsere Arbeit angemessen bezahlt werden», sagt Andrew Meyerson. «Andernfalls wird der Exodus der Mitarbeitenden anhalten.»
Anfang Januar legten die Assistenzärzt:innen für sechs Tage die Arbeit nieder. Es war der längste Streik in der Geschichte des staatlichen Gesundheitsdiensts. Anzeichen, dass der Disput bald beigelegt wird, gibt es derzeit nicht. Was den Streikenden Mut machen dürfte, ist die anhaltende öffentliche Unterstützung: Laut einer Umfrage von Anfang Januar stehen 50 Prozent der Brit:innen hinter den Ärzt:innen, 43 Prozent lehnen den Streik ab. Meyerson glaubt denn auch nicht, dass ihm und seinen Kolleg:innen bald die Luft ausgehen wird – zu viel stehe auf dem Spiel. «Wir streiken, weil wir uns als letzte Verteidigungslinie gegen eine Regierung sehen, die entschlossen ist, den NHS – einst der Stolz dieses Landes – zu zerstören.»