Durch den Monat mit Tadzio Müller (Teil 1): Haben Sie die Segel gestrichen?

Nr. 9 –

Jahrelang war er «Stratege und Geschichtenerzähler» der Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland, wie er selber sagt. Jetzt hängt der Berliner Aktivist Tadzio Müller sein Engagement an den Nagel – zumindest für den Moment.

Tadzio Müller: «Ich merkte, dass ich immer müder und immer aggressiver werde. Ein wütender alter Mann. Und das will niemand.»

WOZ: Herr Müller, am Tag, bevor wir dieses Gespräch führen, haben Sie auf Twitter angekündigt, für eine Weile unterzutauchen. Wie ist das zu verstehen?
Tadzio Müller: Ich will jetzt einfach mal für ein paar Wochen offline sein. Ich brauche eine Kommunikationspause, aus reinem Selbstschutz. Ich könnte mein Telefon mittlerweile jeden Tag mehrmals gegen die Wand werfen.

Warum?
Es kam im Pandemiejahr sehr viel zusammen. Seit diesem Monat arbeite ich nicht mehr als Fachreferent für Klimagerechtigkeit für die Rosa-Luxemburg-Stiftung, ich habe keinen festen Job mehr. Und auch meine Ehe ist auf Eis gelegt.

Letzte Woche spürte ich einen Kippmoment, als ich einen Klimatext verfasste. Der war am Ende voller Wut, ich fluchte darin über die ganze Scheissdiskussion: über die verdammten Umweltverbände, die den deutschen Kohleausstieg 2038 mitunterschrieben haben. Über all die blöden Argumente für «grünes Wachstum», die ich seit 2008 entkräften kann, die aber bis heute ständig auftauchen. Ich merkte, dass ich immer müder und immer aggressiver werde. Ein wütender alter Mann. Und das will niemand.

Wie wurden Sie zum Aktivisten?
1997 gab es in Deutschland eine wuchtige Studierendenbewegung gegen Studiengebühren. Auch in Heidelberg war das Unigebäude besetzt, und ich gehörte zu den etwa zwanzig Linksradikalen, die am längsten ausharrten. Dieses Gefühl hat mich geprägt: ganz vorne zu sein, aber auch ganz allein. Dass wir die Leute nicht mitnehmen konnten, hat mich ziemlich deprimiert.

Und wo haben Sie die Motivation wiedergefunden?
Das war 1999 bei den grossen Protesten gegen die Welthandelsorganisation in Seattle. Es war das Ende der Neunziger, in denen eine gefühlte Alternativlosigkeit zum Neoliberalismus herrschte. In unseren Knochen steckte die Erfahrung, dass Aktivismus irgendwie nichts bringt; man macht was, fühlt sich gut dabei, ist radikal – aber am Ende gewinnt immer das Kapital.

In Seattle sind wir in den grossen Blockaden mit Tränengas attackiert und verprügelt worden, aber die Eröffnung der WTO-Konferenz wurde schliesslich abgesagt. Diese drei Tage haben die Welt verändert. Protest, Aktion und Widerstand ergaben plötzlich wieder Sinn. Und persönlich merkte ich: Mein Kopf, dieser linksintellektuelle Bürgerkopf, zog mich zu den NGO-Workshops. Mein Bauch aber zog mich zu den Anarchoprotesten.

Fünfzehn Jahre später haben Sie Ende Gelände mitbegründet, ein Aktionsbündnis gegen die deutsche Kohlekraft. Was war das Ziel?
Ich war einer von vielleicht fünfzehn Leuten, die 2014 dieselbe Idee hatten: Wir wollten eine fette Aktion mit einer gesellschaftlich anschlussfähigen Kampagne aufziehen. Ich bin ja selbst nicht mal ein extrem ökologischer Mensch; für mich ist Natur nett, aber da muss ich nicht viel Zeit drin verbringen.

Wenn du aber vor so einem Braunkohletagebau stehst, dann merkst du: Das ist eine Wunde in der Natur. Als schwuler Partyboy fragte ich mich, wie ich den Leuten im «Berghain» und im «Kitkat» nun beibringe, dass sie ihr Wochenende auch mal in der Lausitz oder im Rheinland in einem Klimacamp verbringen sollen, anstatt in Berlin rumzuvögeln. Das Ziel war, mit über tausend Leuten die Kohlebagger zu besetzen.

Und davon sexy Bilder zu machen.
Ganz genau, darum die weissen Anzüge. Wir gehörten auch zu den ersten, die Drohnen für die aktivistische Fotografie einsetzten.

Die Grubenbesetzungen sorgten für grosses Aufsehen – waren sie aber auch erfolgreich?
Mir geht es beim Aktivismus halt um das reale Verändern von Dingen. Also ums Gewinnen. Faktisch hatten wir das trotz der tollen Proteste weder mit der Antikriegs- noch mit der globalisierungskritischen Bewegung geschafft, was sich entmächtigend anfühlte. Ich bin jemand, der viele Fehler macht – aber jeden Fehler gerne nur einmal. Und ja, eigentlich machte Ende Gelände von 2015 bis 2018 alles richtig. Wir zogen unsere Strategie fast lehrbuchmässig durch und blieben unbesiegt.

Aber was kam nach drei Jahren Powerplay raus, als das politische System 2018 mit der Kohlekommission antwortete? De facto eine Bestandsgarantie für die Braunkohle im «Kohlekompromiss». Im Grunde wurden wir ganz einfach ausgespielt.

Das klingt sehr ernüchtert. Haben Sie die Segel gestrichen?
Ich persönlich habe für den Moment die Segel gestrichen, ja. Das ganze Kämpfen hat angefangen, mich innerlich kaputtzumachen. Darunter haben auch meine Ehe und mein Ehemann gelitten. Mein Rückzug bedeutet natürlich nicht, dass der Kampf aufhören soll, das wäre unverantwortlich. Aber ich kann gerade nicht mehr das Tanzbärchen sein, das die motivierende Story erzählt.

Tadzio Müller (44) ist doktorierter Politologe. Das findet er aber ziemlich nebensächlich, denn Politikwissenschaft sei «eine uninteressante Disziplin». Seit kurzem arbeitet Müller wieder als Sexworker.