«Dave»: Das Ich am Ende des Tunnels

Nr. 10 –

Mit ungeheurer Fabulierlust erzählt Raphaela Edelbauer in ihrem neuen Roman von einer Laborwelt, in der alle Hoffnung auf der Singularität ruht – dem Moment, in dem eine künstliche Intelligenz die menschliche übertrifft.

Liefert raffinierten Stoff aus der Zukunft: Schriftstellerin Raphaela Edelbauer. Foto: Victoria Herbig

Was tut diese Frau da nur? Sitzt vor dem Computer und guckt durch zwei leere Küchenpapierrollen, die sie mit Klebeband je an ihrer Brille und am Bildschirm befestigt hat.

«Sie ist im Tunnel», erklärt Syz im Grossraumbüro, wo Tausende in Schichten rund um die Uhr Scripts programmieren. «Der kleinste Fehler, ein vergessenes Semicolon, ein Syntaxfehler, kann ein Script zum Absturz bringen.» Mit diesen Scripts werden hier kommunikative Basiskompetenzen codiert: Wie bestellt man etwas im Restaurant? Wie erwidert man ein Kompliment? Jeder Mensch beherrsche Millionen solcher Scripts, erläutert Syz, der menschliche Eigenschaften bevorzugt in computerwissenschaftlichem Vokabular zu fassen scheint. Der Leib ein «Kohlenstoffcomputer», eine «dreidimensionale Repräsentation aus Informationen», die Nerven «Möglichkeitsverzweigungen der Software» und das Leben «Ausformungen eines Programms».

Programmierer in Ekstase

Willkommen bei den Nerds und Geeks in «Dave», dem zweiten Roman der Österreicherin Raphaela Edelbauer («Das flüssige Land»). Die ganze Welt ist hier eigentlich ein würfelförmiges, fünfstöckiges Labor, bevölkert von exakt 118 998 Menschen, die alle auf ein und dasselbe Ziel hinarbeiten: eine künstliche Intelligenz (KI) namens Dave – «die erste, rekursiv sich verbessernde, generelle Intelligenz; eine Singularität, der Anfang und das Ende von allem».

Dieser wissenschaftliche Duktus in Edelbauers Roman schüchtert mitunter ganz schön ein. Und da sind wir noch gar nicht zu den philosophischen Betrachtungen rund um KI vorgedrungen, die in Dialogen und historischen wie fiktiven Einschüben und Traktaten wild wuchernde Blüten treiben. Wobei längst nicht alles, was so daherkommt, tatsächlich historisch verbürgt ist und auch die fiktionale Wahrheit sich immer wieder als höchst unzuverlässig entpuppt.

Das hängt auch damit zusammen, dass wir der Perspektive des Ich-Erzählers Syz ausgeliefert sind. Dieser präsentiert sich zu Beginn als devotes Rädchen im ideologischen Getriebe des Labors: «Dass man in Dave zum Glied eines kollektiven Wirkens wird, ist der Beginn der Ekstase. Das Einssein mit der Schöpfung hatte ich stets im Programmieren wiedererkannt, in Dave wurden wir zum Bestandteil eines zukünftigen All-Bewusstseins – der technischen Transzendenz.»

Auf Dave ruht alle Hoffnung in diesem seltsamen Laborkosmos, der abwechselnd an Fritz Langs «Metropolis» und George Orwells «1984» gemahnt. Denn die Menschheit hat die Aussenwelt – also die Erde – unbewohnbar gemacht, wie «Professor Babuschs lustige Vergangenheitsshow» den Kindern eintrichtert, mit grässlichen Bildern und kruder Propaganda. Und so wetteifern nun zwei Fraktionen miteinander, welchem Zweck Dave letztlich dienen soll: Die «Transhumanisten» sehnen sich nach einer Vereinigung von Mensch und Maschine, die «Neoterraner» dagegen wollen ihre menschliche Hülle behalten und mithilfe von Dave auf den Mars umsiedeln.

Mit solchen Visionen dockt Edelbauer nicht nur an die technizistischen Diskurse im Silicon Valley an. Sie extrapoliert diese in die Zukunft, um darin eine ganze Reihe aktueller Fragen zu verhandeln. Ist Singularität, der Moment also, in dem ein Computer sich laufend selber optimiert und seine Fähigkeiten ins Unermessliche steigert, überhaupt erreichbar? Lässt sich eine solche Form von KI steuern, oder ist sie eine Blackbox, die nicht mehr zu kontrollieren ist? Hat sie noch etwas mit menschlicher Intelligenz gemein, und was für eine Art von Bewusstsein entwickelt sie? Wird sie gut sein oder böse? Und spielt das überhaupt eine Rolle?

Im ominösen Nebel

Von dem Moment an, als Syz aus seiner Routine gerissen und entführt wird, purzeln solche Fragen geradezu über ihn. Im Zentrallabor wird ihm eröffnet, er sei der Auserwählte, dessen Erinnerungen in nächtlichen Kopiesitzungen protokolliert und in Dave übertragen werden sollen, um eine «elektronische Psyche» zu erzeugen, die der KI zu einem Bewusstsein verhelfen soll. Doch dann trifft er auf einen Mann namens Mandelbrot, der ihm erste Zweifel über die wahren Absichten der Laborleitung einpflanzt. Etwa dass es ihr gar nicht darum gehe, den Computer menschförmig zu machen, sondern die Gesellschaft computerförmig.

Anonyme Botschaften mit Anweisungen führen Syz auf die Spuren von Arthur Witteg, offenbar sein Vorgänger bei den Kopiesitzungen, bis er plötzlich verschwand. Witteg beschäftigte sich zunehmend obsessiv mit der Frage, wie eine KI Bewusstsein erlangen könne. Doch was brachte ihn zur Überzeugung, dass ein Missbrauch durch Menschen viel wahrscheinlicher sei als die Entstehung einer sogenannten «bösen Maschine»?

Je tiefer Syz im Archiv in die Protokolle über Witteg eintaucht, desto paranoider scheint er selber zu werden – nicht zuletzt angesichts der seltsamen Veränderungen um ihn herum. Da ist plötzlich dieser «Nebel», den er in den Augen der andern wahrnimmt und der sich im Labor ausbreitet: eine «seltsame Unaufgeräumtheit, die sich in Körper und Geist des Kollektivs eingeschlichen hatte». Ausserdem wird das Laborgebäude laufend überall umgebaut, um mehr Speicherplatz für Dave zu schaffen.

Alles ist Simulation

Mit dem Problem des Gedächtnisses – denn nichts anderes ist ein solcher Speicherplatz für Informationen – greift der Roman einen weiteren Aspekt der Frage nach der Natur des Bewusstseins auf, die bereits Cicero mit seiner Loci-Methode umtrieb. Nach ihm entwickelten Mnemotechniker immer ausgefeiltere Methoden, um die eigenen Erinnerungen in sogenannten Memory Palaces zu organisieren. Doch was taugen diese als Vorlage für unendlich verdichtbare Informationsspeicher, wenn der Raffinierteste unter ihnen, wie in einer von Edelbauers fiktiven Extrapolationen, sich in seinem eigenen Gedächtnisgebäude verirrte und in katatonischem Stupor verendete?

Derweil scheint auch das Laborgebäude im Roman eine Art Metamorphose zu durchlaufen, als würde nicht nur das Gedächtnis unzuverlässig. Woher kommt bloss dieser Sand, der Müll überall? Den Menschen im Labor scheints egal, sie wirken zunehmend geistig derangiert. Als habe der Nebel, so Syz, ihren Geist zu einem einzigen, viskosen Brei vermengt.

Als die Fertigstellung von Dave näher rückt, veranstaltet die Laborleitung «Hackathons» en masse, um den Prozess zu beschleunigen. Alle sind im Tunnel. Alles wird Simulation. Aber Simulation wovon? Einer künftigen Wirklichkeit in Dave? Und ist diese Wirklichkeit dann die neue Realität? Oder eine Illusion wie die Matrix im gleichnamigen Film der Geschwister Wachowski? Syz muss sich Gewissheit verschaffen, den Nebel lichten, Witteg finden, der kurz vor seinem Verschwinden zur Überzeugung gelangt war, dass die Laborleitung gar nicht wolle, dass Dave ein eigenständiges Bewusstsein erlangt. Sie beabsichtige vielmehr, die KI zur Manipulation der Psyche der Menschen zu benutzen.

Was für ein faszinierendes Vexierspiel sich da vor unseren Augen entfaltet! Dramaturgisch meisterhaft spinnt Raphaela Edelbauer die Fäden aus technischem Wissen und philosophischen Fragen rund um Bewusstsein, künstliche Intelligenz und Singularität zu einem Plot, in dem sich alle Fragen zunehmend verknoten und verknäueln, bevor sie einem Finale zurasen, das, nur so viel sei verraten, noch manche Überraschung birgt.

Und einmal mehr wird deutlich, welch spannende Reflexionsräume die Literatur eröffnet, um drängende Zeitfragen zu verhandeln. Im besten Fall sind es gerade die Perspektiven aus einer imaginierten Zukunft, die uns die Probleme der Gegenwart klarer erkennen lassen. Edelbauer zeigt mit «Dave» jedenfalls deutlich, dass Science-Fiction der Science so einiges voraushaben kann, wenn es darum geht, den eigenen Tunnelblick zu verlassen.

Raphaela Edelbauer: Dave. Roman. Klett-Cotta. Stuttgart 2021. 430 Seiten. 37 Franken