«Die Inkommensurablen»: Und alles drängt zum Luster
Auf der Couch und im Ursumpf der Triebe: Raphaela Edelbauer seziert die Stadt Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit psychoanalytischem Besteck. Ihr Roman entwickelt einen Sog wie ein Albtraum oder eine Séance.
Sie hat es schon wieder getan: Auch in ihrem dritten Roman schickt die junge Wiener Schriftstellerin ihre Hauptfigur durch ein Wurmloch. In «Das flüssige Land» (2019) fand sich Ruth in einem Dorf wieder, das auf keiner Landkarte verzeichnet war und über einem wachsenden Hohlraum im Untergrund zu kollabieren drohte, während Syz in «Dave» (2021) sich in einer KI auflöste. Nun, in «Die Inkommensurablen», wird der Tiroler Pferdeknecht Hans Ranftler am 30. Juli 1914 vom Zug in die Wiener Bahnhofshalle ausgespuckt. «Rings um ihn schossen die Menschen wie Projektile.» Österreich hat Serbien den Krieg erklärt, auf den nächsten Morgen wird die Generalmobilmachung erwartet – aber Hans will in die Analyse. Willkommen im Universum von Raphaela Edelbauer.
Von emanzipierten Affekten
Was dem Siebzehnjährigen vom Land in den folgenden 24 Stunden in der Grossstadt wie in einer Raum-Zeit-Kapsel widerfährt, ist rasch erzählt. Zusammen mit der Mathematikstudentin Klara und dem geigenkastenbewehrten Offizierssohn Adam, die er auf den Stiegen zur Psychoanalytikerin Helene Cheresch trifft, tritt er eine Odyssee durch ein dem Krieg entgegenfieberndes Wien an. Sie führt das Trio von der K.-u.-k.-Grandezza (wo Adam herkommt) über die «Demi Monde» der Variétés in den Untergrund mit seinen Opiumhöhlen und Obdachlosen bis an die Ränder der Stadt, wo lumpenproletarische «Bettengänger» in Bretterbuden hausen (und Klara ihre Kindheit verbrachte). Nach dem von Kriegsgeschrei unterbrochenen Rigorosum von Klara trennen sich ihre Wege wieder, und Hans bricht mit Helene zur Analyse auf (was noch nicht ganz das Ende der Geschichte ist).
Aber halt: Ist dieser Pferdeknecht mit seiner so seltsam gestelzten Sprache überhaupt der Protagonist des Geschehens? Mitunter muten er wie auch seine Gefährten eher wie Schachfiguren an, herumgeschoben auf markierten wie verborgenen Pfaden der urbanen Kartografie.
Das historische Wien drängt sich mit Macht ins Zentrum, in Wien, um Wien dreht sich alles, drehen sich alle, doch tun sie es am Vorabend des Ersten Weltkriegs nicht länger im Dreivierteltakt des Walzers. In den Gassen taumeln die Massen bereits dem Gleichschritt der Blaskapellen entgegen, im Variété schwingt man noch das Tanzbein zum «Swing», während Adam in der Musikakademie mit seinen Kollegen ein letztes Mal Arnold Schönbergs zweites Streichquartett probt. Jenes Stück, das, wie es in einer der zahlreichen Miniaturen zur Stadtgeschichte heisst, bereits bei seiner Uraufführung 1908 «gegen ein gewisses, fast greifbar in der Luft liegendes völkisches Empfinden zu verstossen» schien und am 31. März 1913 im legendären «Watschenkonzert» gipfelte. Wie anders könnte da Adams Probe enden als in einer handfesten Prügelei?
Überhaupt, dieses Wien, Geburtsstadt und Nabel der Psychoanalyse: Urvater Sigmund Freud schreibt sich wie von Geisterhand in die Erzählung ein: Im gleissenden Licht des Palais Jerzensky herrscht das Über-Ich in Gestalt von Adams Vater und des versammelten Krisenstabs der kaiserlichen Militärkanzlei, über Suppen und Pasteten werden Kriegsstrategien verhandelt, vor denen die drei Freund:innen die Flucht ergreifen. Das Ich darf sich erst im Dämmerlicht der Demi Monde entfalten, im «Meininger», wo die Grenzen verschwimmen und man sich gegenseitig zeigt: als Suffragette und Lesbe, wie Klara, als Kindsvater, wie Adam, umgeben von Prostituierten, Säufern und Ganoven in «existenzieller Amüsierlaune».
Der Abstieg ins Es, den unbewussten Ursumpf der Triebe, führt die drei ins Kanalisationssystem unter der Stadt und ins «Trabant», mitten in den heroinbefeuerten Rausch einer okkulten Séance. «Das Universum ist ein riesiges, tausendfach verzahntes Rätsel», erklärt ein Medium in Gestalt eines Mädchens, raunt von «Metaphernlandschaften» und verkündet, die Affekte hätten sich von den Menschen emanzipiert und flottierten nun frei, «sie erobern die Massen im Sturm und dringen als frecher Inkubus in den Schlafenden, der darauf als ein anderer erwacht».
Dieser Inkubus ist nichts anderes als ein Albtraum, von Freud in seinem zentralen Werk, der «Traumdeutung», dutzendfach beschrieben als entstellte Form eines unterdrückten Wunsches. Die kollektive Kriegslüsternheit, die in den Horror des Ersten Weltkriegs mündete, drängte den Begründer der Psychoanalyse 1920 zu seinen Überlegungen zum Prinzip des Thanatos, des Todestriebs, dem er Eros, das Lebens- und Lustprinzip, entgegenstellte.
Im edelbauerschen Universum ringen Eros und Thanatos fortwährend miteinander. Der Inkubus fährt nicht nur in die Massen der «Schlafwandler» in den Strassen und Kneipen Wiens, wo «der eigene Körper schon nicht mehr der eigene war, sondern der Öffentlichkeit gehörte»: «ein Volkskörper, ein Kriegskörper», während man sich noch hastig liebte, «ungelenk, schlaflos und juliverschwitzt». Der Inkubus sucht auch Hans, Adam und Klara heim in ihren Träumen, die sie auf seltsame Weise miteinander verbinden und zu Helene führen.
In einem animalischen Rausch
Die Psychoanalytikerin setzt das Lebenswerk eines gewissen Johannes Rosenstein fort, den sogenannten Säculumcluster, eine Datenbank mit Träumen von Menschen, die teilweise Nacht für Nacht Varianten desselben Traumes durchleben. Schauplatz ist ein «Weiler», in dem jede:r Träumer:in einen Raum bewohnt und nur aus dieser beschränkten Perspektive auf das Geschehen blickt, genauer zur Villa hin, zu der es alle zieht, magnetisch angezogen vom Kronleuchter – «alles drängt zum Luster», Adam spricht von einem «Zwang, der keine Begründung kennt und keinen Aufschub duldet». Klara träumt selbst immer wieder davon, und auch Hans findet sich, als er kurz wegdöst, plötzlich in diesem Weiler wieder, wo er beim Anblick des Lusters von einem libidinösen Begehren befallen wird: «Er wollte dieses Ding, nach dem ihn so gierte, in einem animalischen Rausch zerschlagen und es fressen. Er musste zum Luster.» Und, wieder wach, zu Helene, die – er realisiert es erst zu spät – auf «Massenhysterien und parapsychologische Affekte» spezialisiert ist.
Wie vergreiste Teenager
Einmal mehr ist im edelbauerschen Universum nichts, wie es scheint. Das fängt an mit Orten, die nicht gefunden werden wollen, wie «Gross-Einland» in «Das flüssige Land» oder diesem in Tausenden von Träumen imaginierten Weiler. Und wer sich erinnert, wie raffiniert die Autorin in «Dave» historische KI-Forscher mit erfundenen Wissenschaftlern und Theorien mischte, ahnt vielleicht, dass auch dieser Rosenstein nie existiert hat, im Unterschied zu C. G. Jung oder Paul Kammerer und deren Konzepten. Und auch in «Die Inkommensurablen» tragen die Protagonist:innen auf ihrer Suche nach einer Wahrheit, die es nicht gibt, ausgiebige Wortgefechte auf hochphilosophischem Niveau aus. Vielleicht wirken Hans, Klara und Adam auch deshalb oft wie frühzeitig vergreiste Teenager.
Anders als bei den mitunter ausufernden oder in Schlaufen mäandrierenden Dialogen der ersten beiden Werke weiss Edelbauer ihre Fabulierlust hier aber zu bändigen und in umso schillernderen biografischen Episoden oder szenischen Miniaturen in eine grosse, vielschichtige Erzählung einzubinden. Das bleibt im besten Sinne anspruchsvoll, inkommensurabel hingegen keinesfalls. Auch wenn wir der Autorin dankbar sind, dass sie Klara in ihrem Dissertationsvortrag unterbricht, bevor sie zum mathematischen Beweis der titelgebenden Inkommensurablen – irrationale Zahlen wie die Kreiszahl Pi – ansetzen kann.
Raphaela Edelbauer: «Die Inkommensurablen». Roman. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 2023. 352 Seiten. 35 Franken.