Seenotrettung: Solidarität auf der Anklagebank

Nr. 10 –

Der Crew des Rettungsschiffs Iuventa und weiteren HelferInnen droht in Italien eine Anklage. Die Beweislage der Staatsanwaltschaft ist dabei ausgesprochen dünn.

Für die zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer stellte der Fall «Iuventa» eine Zäsur dar; nun geht das Machtspiel der italienischen Behörden gegen die Crew des Rettungsschiffs in die nächste Runde. Nach dreieinhalb Jahren hat die Staatsanwaltschaft der sizilianischen Stadt Trapani vergangene Woche ihre Ermittlungen für abgeschlossen erklärt, jetzt ist die Justiz am Zug.

Wird Anklage erhoben, müssen sich 21 AktivistInnen aus verschiedenen Hilfsorganisationen wegen «Beihilfe zur illegalen Einwanderung» vor Gericht verantworten. Bei einer Verurteilung drohen den Angeklagten bis zu zwanzig Jahre Haft.

Seinen Anfang nahm der Fall am 10. September 2016. Die deutsche Organisation Jugend rettet arbeitete damals mit den beiden grösseren NGOs Médecins sans frontières und Save the Children zusammen. Die «Iuventa», der kleine Kahn von Jugend rettet, nahm auf hoher See Geflüchtete in Seenot auf, bevor diese dann von den grösseren Schiffen der beiden anderen Organisationen übernommen wurden.

«Absolut gesetzeskonform»

Auch am fraglichen Tag beteiligte sich die «Iuventa» an der Rettung von Geflüchteten. Dabei, so behauptet die Staatsanwaltschaft, habe die Crew mit SchlepperInnen kooperiert, indem sie diesen ein leeres Boot zur Wiederbenutzung überlassen habe. Die Beweise für diese angebliche Kooperation stammen unter anderem aus den Beobachtungen des Sicherheitsmanns Pietro Gallo. Die WOZ hat seine Geschichte vor zwei Jahren ausführlich dokumentiert. Gallo sagte später bei der Polizei aus, er habe die Zusammenarbeit von Bord des Save-the-Children-Schiffs Vos Hestia aus beobachtet.

Fast ein Jahr nach dem Einsatz wird die «Iuventa» vor der italienischen Insel Lampedusa beschlagnahmt. Laut Angaben von Jugend rettet hat sie bis dahin 14 000 Menschen vor dem sicheren Tod bewahrt. Neben dem Ereignis im September 2016 finden sich in der Ermittlungsakte auch zwei weitere Verdachtsmomente vom Juni 2017. Die vermeintlichen Belege für eine Zusammenarbeit zwischen den HelferInnen und den SchlepperInnen: die Aussagen von Sicherheitsmann Gallo, abgehörte Telefongespräche, Screenshots und Fotos.

Später widerrief Gallo seine Angaben öffentlich; die rechtsextreme Lega-Partei des späteren italienischen Innenministers Matteo Salvini habe ihm im Gegenzug für seine Zeugenaussage einen Job in Aussicht gestellt, gab er zu Protokoll. Auch das britische Rechercheteam Forensic Architecture von der Goldsmith University rekonstruierte den Fall «Iuventa» mithilfe von Wetterdaten, Agenturbildern und Kameramaterial minutiös. Auch sie fanden nirgends Beweise dafür, dass sich die RetterInnen nicht an die Regeln gehalten hätten.

Die italienische Journalistin Annalisa Camilli verfolgt die Ereignisse um die «Iuventa» seit Jahren, 2019 hat sie ein Buch über die Seenotrettung und ihre Kriminalisierung publiziert. Dass es nun wohl zur Anklage kommt, überrascht sie nicht; überraschend sei lediglich, dass die Ermittlungen so lange gedauert hätten. Camilli weist auf eine bemerkenswerte Gleichzeitigkeit hin: Nicht nur gegen die AktivistInnen gingen die Behörden vor, sondern auch gegen Lega-Mann Matteo Salvini, dem die ungesetzliche Blockade ziviler Rettungsschiffe vorgeworfen wird.

Im Prozess gegen die «Iuventa» sieht Camilli, die für das Magazin «Internazionale» schreibt, auch eine Chance: «Er bietet der Öffentlichkeit die Möglichkeit, die Handlungsweise der Seenotretter besser zu verstehen. Und er kann Licht in die Beziehungen zwischen Salvinis Lega und privaten Sicherheitsleuten bringen – und so die Kriminalisierungsstrategie der Behörden sichtbar machen», sagt sie.

Weil die AktivistInnen bei ihren Einsätzen lediglich das internationale Seerecht befolgen würden, das die Rettung von Menschen in Not vorsieht, rechnet Camilli mit einem Freispruch für die 21 Angeklagten. Sie geht allerdings auch nicht davon aus, dass Salvini, dessen Immunität letztes Jahr aufgehoben wurde, verurteilt wird. Die gegenwärtige parteilose Innenministerin hat mitgeteilt, es sei nicht ungewöhnlich, Schiffe vor der Anlandung warten zu lassen, was als wichtiges Argument zu Salvinis Gunsten gilt. Wolle man Salvini verurteilen, müsse man eigentlich die gesamte damalige Regierung vor Gericht bringen, meint Camilli.

Einer der Beschuldigten der «Iuventa» ist Einsatzleiter Sascha Girke. Der deutsche Rettungssanitäter arbeitet heute unter anderem auf der «Sea-Watch 3». Die Nachricht von der drohenden Anklage habe ihn erreicht, als er mit mehr als 300 geretteten Menschen in den Hafen von Augusta eingelaufen sei, erzählt Girke. «Die Kriminalisierung unserer Arbeit erschien mir da erst recht total surreal.» Von der Anklage sei er überrascht, weil die «Iuventa»-Crew bisher volle Transparenz über ihre Tätigkeit geschaffen habe. «Dass die Staatsanwaltschaft nicht einfach einen Fehler zugibt, sondern die Anklage noch ausweiten will, zeugt von Ignoranz», sagt Girke. «Offenkundig geht es ihr nicht um eine juristische Klärung, sondern um einen politischen Angriff auf die Idee, dass zivilgesellschaftliche Akteure die Menschenrechte durchsetzen.»

Einem Prozess sieht Girke nach den bisherigen Erfahrungen mit den italienischen Behörden skeptisch entgegen. «Das Verfahren ist frustrierend und macht mich wütend.» Denn an ihm werde bloss ein Exempel statuiert. «Von der Kriminalisierung der Hilfe sind in erster Linie die Menschen betroffen, die fliehen mussten.»

Versuche, das Retten von Menschen im Mittelmeer zu bestrafen, hat es schon früher gegeben. 2004 etwa rettete die Besatzung der deutschen «Cap Anamur» Dutzende Menschen aus einem überfüllten Schlauchboot – und durfte nach einer mehrwöchigen Irrfahrt schliesslich in Sizilien an Land, wo mehrere Crewmitglieder auch gleich verhaftet wurden. Nach einem jahrelangen Prozess wurden die Männer dann freigesprochen. Im Gegensatz zu damals seien diesmal aber viel mehr Leute und grosse humanitäre Organisationen involviert, sagt Autorin Camilli. Das mache den Fall «Iuventa» so einzigartig.

Steigender Druck

Die drohende Anklage gegen die RetterInnen fällt in eine Zeit, in der die italienische Öffentlichkeit mit der drohenden dritten Coronawelle und den ökonomischen Folgen der Krise befasst ist. Nach der kürzlich erfolgten Neubildung ist aber auch Salvinis Lega wieder Teil der Regierung. Entsprechend dürfte der Druck steigen, in der Migrationspolitik wieder eine «härtere Linie» zu fahren. Einen Vorgeschmack darauf, welche Rolle der Öffentlichkeit im Machtspiel der Politik gegen die HelferInnen zukommt, liefern derzeit Italiens rechte Medien.

Vergangene Woche ging nicht bloss der Fall «Iuventa» in die nächste Runde, sondern auch die Kriminalisierung anderer SeenotretterInnen. Medien, die der Lega und anderen rechtsextremen Gruppen nahestehen, machten die Vorwürfe der Behörden grossflächig zum Thema: Ebenfalls auf Sizilien wurde gegen Crewmitglieder des Schiffes Aquarius Anklage wegen «illegaler Müllentsorgung» erhoben. Und bei italienischen AktivistInnen der «Mare Jonio» fanden Hausdurchsuchungen statt.

«Im Vergleich zu 2016 hat sich die Situation auf dem Mittelmeer noch einmal deutlich verschlechtert», berichtet Fluchthelfer Sascha Girke. «Die italienischen Behörden geben ihre Informationen nur noch an die sogenannte libysche Küstenwache weiter, damit diese die Geflüchteten zurückschafft.» Diese Küstenwache sei längst weit über ihr eigenes Hoheitsgebiet hinaus tätig, was dem Non-Refoulement-Gebot widerspreche. Mit der Unterstützung der EU-Staaten bringt sie Geflüchtete in einen Staat zurück, in dem ihnen Folter droht. Tausenden wird so der Zugang zum Asylrecht verwehrt.

Wie notwendig die Seenotrettung bleibt, zeigt die Statistik: In diesem Jahr haben bereits mehr als 250 Menschen die Überfahrt nach Europa mit dem Leben bezahlt.

Mitarbeit: Kaspar Surber