Standpunkt: «Der ‹Kommunismus›-Begriff ist beschädigt»

Nr. 12 –

Wie sollen wir das Projekt der Abschaffung von Unterdrückung und Ausbeutung nennen? Historiker Adrian Zimmermann sucht hundert Jahre nach der Gründung der Kommunistischen Partei der Schweiz nach einer Antwort.

Das zum 100. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS) in der WOZ erschienene Gespräch zwischen der Historikerin Brigitte Studer und der Berner PdA-Stadtparlamentarierin Zora Schneider (siehe WOZ Nr. 9/2021 ) wirft wichtige Fragen auf. Paradoxerweise kann man sowohl Brigitte Studer recht geben, dass der Begriff «Kommunismus» zu vorbelastet ist, um ihn noch als politisches Projekt zu verwenden, als auch Zora Schneiders Wunsch unterstützen, weiterhin eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung jenseits des Kapitalismus anzustreben.

Ob der Begriff «Kommunismus» dazu allerdings noch taugt, darf infrage gestellt werden. Er hat sich seit dem erstmaligen Auftauchen von sich «kommunistisch» nennenden Gruppierungen stark gewandelt. Dasselbe gilt auch für den verwandten Begriff «Sozialismus». Karl Marx und Friedrich Engels nannten 1848 ihr berühmtes Manifest bewusst nicht «sozialistisch», da sich damals sehr unterschiedliche und teilweise ihren emanzipatorischen Zielen geradezu entgegengesetzte Sozialtheorien so nannten. Bald wurde der Begriff «Sozialismus» aber – wie 1848 noch «Kommunismus» – mit der sich formierenden modernen ArbeiterInnenbewegung verbunden. Als sich ArbeiterInnen Ende des 19. Jahrhunderts in Massenparteien zusammenschlossen, nannten sich diese nirgendwo «kommunistisch», obschon sie durchaus der Tradition des «Kommunistischen Manifests» von 1848 verpflichtet waren, sondern «sozialistisch», «sozialdemokratisch» oder «Arbeiterpartei».

Jahrzehntelang loyal

Einen scharfen und wohl irreversiblen Wandel erfuhr der Begriff «Kommunismus», als es nach den durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Revolutionen in Russland und Mitteleuropa zu einer tiefen und weltweiten Spaltung der ArbeiterInnenbewegung kam. Unter Führung des im November 1917 in Russland zur uneingeschränkten Regierungsgewalt gelangten bolschewistischen Flügels der russischen Sozialdemokratie, der sich nun «Kommunistische Partei» nannte, formierte sich 1919 die Kommunistische Internationale (Komintern). Sie wurde von Moskau aus straff geführt und stellte an ihrem zweiten Weltkongress im Sommer 1920 21 Beitrittsbedingungen auf.

Die Komintern forderte von den beitrittswilligen Parteien eine radikale Reorganisation nach Vorbild der ultrazentralistischen Parteistruktur der Bolschewiki. An der Frage der 21 Bedingungen spalteten sich darauf Ende 1920 und Anfang 1921 gerade diejenigen Parteien, die am konsequentesten gegen den Ersten Weltkrieg gekämpft hatten: die deutsche USPD, die Sozialistische Partei Italiens und eben auch die SP Schweiz. Die danach gegründete KPS und später die PdA blieben wie ihre Schwesterparteien dem Ende der 1980er Jahre schliesslich gescheiterten Experiment der Sowjetregierung noch jahrzehntelang loyal verbunden.

Bedeutete «Kommunismus» vor und nach der Parteispaltung vor hundert Jahren etwas ganz Verschiedenes, so gilt dies auch für den Begriff «Antikommunismus». Brigitte Studers Sprung vom Bericht des konservativen Zürcher Juristen Bluntschli von 1843 zur Aussage, dass «Antikommunismus (…) sogar in der Sozialdemokratie verbreitet» gewesen sei, ist daher zu kühn.

Es stimmt zwar, dass während der Hochphase des Kalten Kriegs auch führende Sozialdemokraten und Gewerkschafter im Namen des Kampfes gegen die kommunistischen Parteien und Regimes bisweilen menschenrechtlich fragwürdige Repressionsmassnahmen unterstützten. Doch selbst diese schärfste Form eines sozialdemokratischen «Antikommunismus» richtete sich gegen die als Spalter der ArbeiterInnenbewegung empfundenen kommunistischen Parteien und die Praktiken der kommunistischen Regimes und selbstverständlich nicht – ganz im Gegensatz zum klassischen bürgerlichen Antikommunismus – gegen die ursprünglich mit dem Begriff verbundenen Ideen und Ziele, die die Sozialdemokratie weiterhin teilte, aber nun als «demokratischen Sozialismus» bezeichnete.

So schrieb etwa Robert Grimm, der sich 1920/21 vehement gegen die Parteispaltung gewandt hatte, im Jahr 1931: «Als Lehre stimmen Sozialismus und Kommunismus überein. (…) Die Grundlage beider ist das Kommunistische Manifest.» Nicht im Ziel, sondern im Weg, so Grimm weiter, unterschieden sich die beiden ArbeiterInnenparteien, die «Sozialdemokratie wendet sich gegen die wahl- und voraussetzungslose Übertragung von Kampfparolen von Land zu Land» und «gegen den Versuch, dem subjektiven Faktor in der Menschheitsentwicklung die ausschlaggebende Rolle zuzuschreiben und die objektiven Faktoren aus der Betrachtungsweise auszuschalten».

Krasse Missachtung

Damit sprach Grimm ein zumindest in ihren Anfangsjahren entscheidendes Unterscheidungsmerkmal der neuen kommunistischen zu den älteren sozialdemokratischen Parteien an: ihren voluntaristischen Charakter, der, im Widerspruch zur marxschen materialistischen Geschichtsauffassung, die historischen Bedingungen revolutionärer Politik weitgehend ausblendete. An ihrer krassen Missachtung der «gegebenen und überlieferten Umstände», unter denen, so Marx in seinem «18. Brumaire», die «Menschen (…) ihre eigene Geschichte» machen, scheiterten die vor hundert Jahren so euphorisch gestarteten kommunistischen Parteien und Regimes schliesslich.

Es ist deshalb zu hoffen, dass Zora Schneider mit ihrer reichlich unklaren Formulierung, dass das «Subjekt (…) im Marxismus eine grosse Rolle» spiele, nicht an eine Wiederbelebung dieses illusionären Voluntarismus denkt.

Historiker Adrian Zimmermann forscht mit einem vergleichenden und transnationalen Ansatz zur ArbeiterInnenbewegung.