Grossbritannien: Die Linke auf dem Abstellgleis

Nr. 46 –

Der frühere britische Labour-Chef Jeremy Corbyn wurde wegen Antisemitismusvorwürfen aus seiner Partei geworfen. Parteilinke sehen die Vorwürfe auch als Vorwand, um Labour in die Mitte zu führen.

Weder plane er einen «Bürgerkrieg» noch eine «Säuberungsaktion» gegen die Parteilinke, versicherte Labour-Chef Keir Starmer Ende Oktober in London. Am Tag zuvor hatte er seinen Vorgänger Jeremy Corbyn von der Partei suspendiert und damit bei den AnhängerInnen des ehemaligen Chefs Entrüstung ausgelöst. Es war das bislang klarste Zeichen, dass der neue Chef entschlossen ist, Labour weiter in die politische Mitte zu führen. Seit seiner Amtsübernahme im April hat Starmer vieles unternommen, um den linken Parteiflügel kaltzustellen.

Der ehemalige Labour-Vorsitzende Corbyn, der von 2015 bis 2020 Parteichef gewesen war, wurde nach einer Veröffentlichung der britischen Gleichberechtigungs- und Menschenrechtskommission (EHRC) suspendiert. In dem Ende Oktober veröffentlichten Bericht wurden antisemitische Zustände in der Labour-Partei untersucht. Der Vorwurf, dass die Opposition unter dem linken Vorsitzenden Corbyn antijüdischen Rassismus toleriert oder gar genährt habe, warf lange einen Schatten auf die Partei.

Insbesondere kritisierte der EHRC-Bericht, dass der Beschwerdeprozess untauglich sei. So seien Beschwerden jüdischer Mitglieder unbeantwortet geblieben. Zudem fehle den FunktionärInnen antirassistische Sensibilität. Aber im Gegensatz zu vielen KritikerInnen Corbyns kommt die Kommission nicht zum Schluss, dass Labour von einem «institutionellen Antisemitismus» geprägt sei oder dass Corbyn gar persönliche Schuld an dieser Entwicklung trage.

Kritik am Rauswurf

Corbyns Reaktion fiel eher unaufgeregt aus: Auch wenn er nicht alle Schlussfolgerungen der Kommission akzeptiere, hoffe er dennoch, dass deren Empfehlungen schnell umgesetzt würden. Seinen KritikerInnen entgegnete er, dass «unsere Gegner innerhalb und ausserhalb der Partei sowie weite Teile der Medien das Ausmass des Problems aus politischen Gründen dramatisch übertrieben hatten».

Tatsächlich steht die Art und Weise, wie PolitikerInnen anderer Parteien und die etablierten Medien über Antisemitismus in der Labour-Partei berichten, in keinem Verhältnis zur Realität, wie mehrere Studien zeigen. Besonders auffällig dabei seien Verleumdungen wie jene des konservativen Journalisten Simon Heffer vom «Sunday Telegraph», der sagte, Corbyn wolle «Auschwitz wiedereröffnen». Aber auch weniger krasse Übertreibungen, Verzerrungen und Falschaussagen waren in den vergangenen Jahren an der Tagesordnung, schreibt der Medienwissenschafter Justin Schlossberg von der University of London.

Dass Corbyn nach der Publikation des EHRC-Berichts auf diesen Sachverhalt verwies, half ihm dann auch nicht mehr. Ihn wegen des Berichts gleich aus der Partei zu werfen, wie es Starmer tat, das schien dann doch vielen überrissen. Mehrere GewerkschaftsführerInnen bezeichneten den Schritt in einem offenen Brief als «unbedacht und ungerecht». Corbyn selbst hat angekündigt, gegen seine Suspendierung vorgehen zu wollen. Viele seiner AnhängerInnen sehen in der Suspendierung zudem weniger ein Signal gegen Rassismus als vielmehr einen offensichtlichen Versuch, den Bruch mit der Politik Corbyns zu vollenden. Corbyn hatte im Dezember 2019 seinen Rücktritt angekündigt, nachdem die Partei bei den Parlamentswahlen ihr schlechtestes Ergebnis seit 1935 hatte hinnehmen müssen.

Wiederentdeckung des Patriotismus

Zwar hatte Starmer vor seinem Amtsantritt noch versprochen, «die radikale sozialistische Tradition» beizubehalten. Der Schwenk in die politische Mitte erfolgte jedoch schnell. Innerhalb kurzer Zeit hatte Starmer praktisch alle Corbyn-AnhängerInnen aus dem Schattenkabinett geschasst. In seinem Bestreben, sich als kompetent und moderat zu präsentieren, scheut er vor allem zurück, was als zu links erscheinen könnte. Im Sommer zog er den Zorn der Black-Lives-Matter-AktivistInnen auf sich, als er ihre Bewegung einen «Moment» nannte. Ihre Forderung nach einer Spardiät für die Polizei bezeichnete er als «Unsinn». Zudem hat er seine Hoffnung bekundet, dass Labour den Patriotismus wiederentdecke.

Auch hielt sich Starmer lange Zeit mit Kritik an der Coronakrisenbewältigung des Premierministers Boris Johnson zurück. Er verurteilte weder den verspäteten Lockdown im Frühjahr noch die vorzeitige Lockerung der Einschränkungen im Sommer. Als die Regierung vor wenigen Wochen darauf bestand, dass die Schulen offen bleiben sollen, bot der Labour-Chef Rückendeckung – obwohl die LehrerInnengewerkschaft National Education Union deren Schliessung forderte.

Das rigorose Vorgehen gegen Corbyn fügt sich in diese Neuausrichtung der Partei ein. Eine andere Frage ist hingegen, ob die Suspendierung Corbyns dem Kampf gegen Rassismus hilft. Weite Teile der linken Basis sehen vielmehr eine politische Instrumentalisierung des Antisemitismus, die sie seit Jahren beklagen: «Meine Identität wurde von der Parteiführung benutzt, um Unterstützung in der politischen Mitte zu gewinnen», sagte die jüdische Labour-Aktivistin Olivia Fletcher.