Stau im Suezkanal: Buchstäblich quer gestellt
Wenn die Arbeitsteilung zum Risikofaktor wird: Die Blockade des Frachters Ever Given führt die Fragilität der globalen Vernetzung vor Augen. Eine kurze Geschichte der Lieferketten.
Dieses Symbolbild hätte keine Bildagentur treffender in Auftrag geben können. Bilder prall gefüllter Containerschiffe und Kolonnen zieren seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert die Berichterstattung über die Weltwirtschaft. Immer dann, wenn über Welthandel, Wachstum oder Globalisierungskritik berichtet wird, greifen die Bildredaktionen gerne zum Symbol des Containerschiffs. Wie soll man besser zur Darstellung bringen, dass die Weltwirtschaft immer noch auf Kurs ist, der Nachschub für den Konsum gesichert oder der Freihandel wieder mal unter Attacke steht?
Doch letzte Woche tauchte eine neue Variante dieses Motivs in den Medienkanälen auf: Sie zeigte den mit Containern gefüllten Riesenfrachter Ever Given, der auf Grund gegangen war und sich buchstäblich quer gestellt hatte. Und damit ausgerechnet den Suezkanal, die kürzeste Schiffsroute zwischen Asien und Europa, blockiert hatte.
Rite de Passage
Visionen einer schnellen Verbindung zwischen Europa und Asien und die damit einhergehende Vorstellung einer Vereinigung und Zivilisierung der Welt und einer Beschleunigung des Welthandels hatten im 19. Jahrhundert Utopisten, Staatsbeamte und Investoren umgetrieben – den Saint-Simonisten Prosper Enfantin etwa, der davon träumte, dass mit ingenieurwissenschaftlicher Technik die Welt vereint und befriedet werden könnte; aber auch die Beamten des britischen Empire, die eine schnelle Schiffsverbindung zum Ausbau ihrer ökonomischen und militärischen Interessen im Nahen Osten im Visier hatten.
Wie die Globalhistorikerin Valeska Huber in ihrer 2013 erschienenen Geschichte des Suezkanals («Channeling Mobilities») schreibt, wurde mit der Einweihung der Schiffsverbindung im November 1869 die Bewegung von Waren und Menschen auf neue Art und Weise kanalisiert. Das britische Empire verfügte nun über eine maritime Schnellstrasse, die zum Rückgrat seiner imperialen Infrastruktur wurde, wie Otto von Bismarck neidisch bemerkte.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden siebzig bis achtzig Prozent der Fracht unter britischer Flagge durch den Suezkanal transferiert. Der Kanal beschleunigte auch den Tourismus vom Mittelmeer ans Rote Meer. Der britisch-polnische Schriftsteller Joseph Conrad spöttelte über die neuen schreibenden WelttouristInnen, die mit leeren Notizbüchern auf dem Suezkanal unterwegs waren und Impressionen sammelten. Die TouristInnen waren mit Reiseführern bestens ausgerüstet und stellten sich auf einen Rite de Passage von Europa in den so ganz anderen Orient ein. Einige waren dann leicht enttäuscht bei der Durchfahrt und lamentierten über die Monotonie des Kanals.
Der Suezkanal war nie bloss eine Wasserstrasse, sondern zunächst eine Riesenbaustelle, dann ein komplett neuer Raum mit der aus dem Wüstenboden gestampften Stadt Port Said im Zentrum und schliesslich nach dem Ersten Weltkrieg ab 1915 auch ein Camp für die armenischen Flüchtlinge, die dem Genozid entronnen waren.
Durch den Kanal laufen auch Unterwasserkabel. Eine Beschädigung dieser Kabel in den Jahren 2008 und 2011 führte dazu, dass etwa hundert Millionen Menschen im Nahen Osten temporär vom Internet abgetrennt waren. Gemäss «The Economist» flossen letztes Jahr zwölf Prozent des Warentransports und zehn Prozent des Weltkonsums von Öl durch den Kanal. Das Symbolbild des unterbrochenen Nadelöhrs am Suezkanal weist also auf eine mehrfach fragile Stelle der globalen Vernetzung hin.
Die Box setzt sich durch
Der Stau am Suezkanal lenkte den Blick auch auf die LogistikerInnen und ihre hoch technisierte Arbeitswelt. Solange der globale Warenfluss läuft, werden sie von den KonsumentInnen, die im Supermarkt einkaufen oder an der Tankstelle fossile Brennstoffe abzapfen, nicht zur Kenntnis genommen. Bei Störungen und Pannen ändert sich das schlagartig.
Die Container waren ein Treiber des Globalisierungsschubs im ausgehenden 20. Jahrhundert, genauso wie neue Produktionssysteme, die unter den Begriffen «Just in time» (JIT) und «Supply Chain Management» (SCM) nun plötzlich in den Schlagzeilen ausserhalb der Wirtschaftsressorts auftauchten. Die Arbeitsinstrumente der globalen Logistik stammen aus den USA und Japan und lösten das klassische fordistische Produktionssystem mit extensiver Lagerhaltung ab.
Der Ökonom Marc Levinson hat in seiner 2006 erschienenen Geschichte des Containers («The Box») anschaulich aufgezeigt, wie eine simple, standardisierte Box den Welthandel revolutionierte und in den 1990er Jahren zu einem materiellen Treiber der Globalisierung wurde. Ursprünglich war der Container in den USA in den 1950er Jahren vom gewieften Geschäftsmann Malcom McLean erfunden worden, der damit den Transport von Gütern vereinfachen und verbilligen wollte.
Dem Widerstand der Transportkartelle wurde durch Verlagerung von Hafenanlagen an andere Standorte begegnet. Den Hafenarbeitern, die in zersplitterten Gewerkschaften organisiert waren, wurden Lohnzusagen gemacht, um ihre Zustimmung zum Containerprinzip zu gewinnen – oder das Streikrecht aberkannt, wo die Zustimmung fraglich war.
Im Vietnamkrieg entfaltete das Containersystem seine globale Bedeutung. Malcom McLeans SeaLand Service Inc. bekam von der US Navy Transportaufträge für den Nachschub nach Vietnam – und nutzte die leeren Rückfahrten für den Transport von Unterhaltungselektronik aus Asien in die USA. In den siebziger Jahren wurde der Seetransport durch die nun erstmals standardisierten Schiffscontainer schnell und günstig.
Die zweite zentrale Innovation der Transportlogistik, die Just-in-time-Produktion, stammt aus Japan. Als Erfinder gilt Taiichi Ono, der 1956 in den USA während einer Studienreise zu General Motors und anderen Automobilfabriken einen Supermarkt aufsuchte. Er beobachtete, dass KundInnen mit Körben im Laden herumliefen und sich die Waren selbst aus dem Regal nahmen. Der Supermarkt stand Pate bei der Idee, die Abläufe in der Fertigungsstrasse bei Toyota als eine Art Laden zu betrachten. Der nachfolgende Fertigungsprozess (sozusagen der Kunde) geht zum vorgelegten Produktionsprozess (dem Pendant zum Supermarkt), um die gewünschten Teile (Waren) zur richtigen Zeit in der richtigen Menge zu kaufen. Darauf stellt der erste Produktionsprozess die Menge, die gerade entnommen wurde, wieder her (füllt also sozusagen die Regale auf).
Je schlanker, desto riskanter
JIT wurde in Japan ursprünglich auf Basis eines Zettelsystems (Kanban-Karten) entwickelt, das den Material- und Informationsfluss im Betrieb und mit den Lieferanten verschränkte. Als JIT in den achtziger Jahren in Europa und den USA adaptiert wurde, machten vernetzte Rechner die EDV-gestützte Steuerung von Warenflüssen möglich. Damit entstand die für die Logistik bis heute zentrale Managementstrategie, die bei den gesamten Lieferketten ansetzt, dem Supply Chain Management. Doch gerade dieses Organisationskonzept der immer schlankeren Logistikketten birgt Risiken.
Die Supply Chains sind äusserst fragil geworden, anfällig für Naturkatastrophen, Brände, Streiks oder politische Krisen. Nur schon ein über Bord gegangener Schiffscontainer, der wichtige Ersatzteile oder Komponenten der neusten Betriebssysteme mit sich führt, kann erhebliche Verspätungen verursachen. Punktgenau in globaler Arbeitsteilung zu produzieren, ist in der Ökonomie schon seit längerem als Risikofaktor erkannt geworden.
Kein Wunder also, dass die Sprache für dieses Transportrisiko des globalen Kapitalismus letzte Woche wieder tief in das Metaphernreservoir des bedrohten menschlichen Organismus gegriffen hat, wenn sie vom «Würgegriff» am Suezkanal oder von der lebenswichtigen «Ader» des Suezkanals sprach. Dagegen muten die neuen Symbolbilder der quer gestellten «Ever Given» fast schon wie ein harmloses Legospiel an.
Monika Dommann ist Professorin für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Zürich. Im Frühling 2022 erscheint bei Fischer ihr Buch zur Geschichte der Logistik.