Sachbuch: Premier auf Palette
In ihrer fesselnden Geschichte der Logistik zeigt die Zürcher Historikerin Monika Dommann, dass Warenströme immer auch politisch sind.
«Amateurs talk strategy, professionals talk logistics», heisst es in der Kriegswissenschaft: Entscheidend für einen Sieg auf dem Schlachtfeld sei nicht primär die Gefechtsexpertise von Generälen, sondern der reibungslose Zufluss von militärischem Gerät. Gerade deshalb spielte das Heerwesen bei der Weiterentwicklung der globalen Logistik immer wieder eine wichtige Rolle. Das US-Militär etwa organisierte während des Vietnamkriegs den Nachschub für seine Truppen mittels damals noch recht neuer Containerschiffe und bereitete so den Weg für die Containerrevolution in der Frachtschifffahrt.
Seither sind die globalen Warenflüsse gewaltig angeschwollen. Noch nie aber sei die Logistik derart im Fokus der Weltöffentlichkeit gestanden wie im März 2021, schreibt die Zürcher Historikerin Monika Dommann in ihrem neuen Buch, «Materialfluss». Damals gingen die Bilder der «Ever Given» um die Welt: Der Containerriese war im Suezkanal auf Grund gelaufen und blockierte tagelang die Route zwischen Rotem Meer und Mittelmeer. Hunderte Schiffe stauten sich, die Lieferketten stockten – wie schon ein Jahr zuvor, als die Pandemie grosse Teile der globalen Ökonomie stillgelegt hatte. Eine Luftaufnahme der gestrandeten «Ever Given» steht nun am Anfang dieser fesselnden Studie, in der Dommann der Geschichte der Logistik seit dem 19. Jahrhundert nachspürt.
Aufsehen erregt die Logistik vor allem, wenn nichts mehr geht. Die Historikerin nähert sich ihrem Gegenstand aber nicht über gelegentliche Unterbrüche der weltweiten Warenströme, sondern mittels Fallstudien, die schlaglichtartig zunächst unspektakulär erscheinende Entwicklungen beleuchten: Es geht ums Warenlager, die Europalette, die Verpackung und die Just-in-time-Produktion. Und dabei stets um mehr als bloss Technisches oder Organisatorisches.
Alles im Fluss
Das Beispiel der Transportpalette etwa zeigt, dass Logistik immer auch politisch ist. Als 2016 in Grossbritannien das Brexit-Referendum anstand, absolvierte der damalige Premierminister David Cameron einen Auftritt auf einer Europalette, um für den Verbleib in der Europäischen Union zu werben. Der Holzuntersatz sollte Symbol dafür sein, dass Europa «nicht bloss das Ergebnis politischer und ökonomischer Beziehungen» ist, schreibt Dommann, «sondern auch das Ergebnis von gemeinsamen Infrastrukturprojekten und Aneignung von Wissen und Artefakten».
Bis zur Verwirklichung des Gemeinschaftsprojekts Europalette war es allerdings ein erstaunlich weiter Weg gewesen. Zunächst waren es US-amerikanische «Materialflussingenieure», die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bemerkten, «dass da, wo die Rohmaterialien angeliefert und die Fabrikate abtransportiert wurden, wegen der Vielfalt an Transportmitteln mit unterschiedlichsten Abmessungen kostbare Zeit verloren ging». Eine normierte Transporteinheit sollte Abhilfe schaffen. Der Zweite Weltkrieg wurde dann zum «Materialflusslabor» (wie ja später auch der Vietnamkrieg). Nach 1945 hatten sich in den USA zwar Holzpaletten durchgesetzt, aber einen einheitlichen Standard für deren Masse gab es immer noch nicht.
Damals seien die Begriffe «Bewegung» und «Fluss» zu Leitmotiven des ökonomischen Diskurses geworden, so Dommann. Auch in der Schweiz und Europa bemühte man sich daher, eine standardisierte Palette zu etablieren, um ein Zirkulieren der Waren ohne Reibungsverluste zu befördern. 1961 wurde dafür der Europäische Palettenpool ins Leben gerufen und schliesslich die Abmessung von 80 auf 120 Zentimetern zum Standard für die Europalette erklärt.
Auf der anderen Seite des Planeten waren es ebenfalls zunächst profan erscheinende Dinge, die die Logistik umkrempeln sollten. Nach dem Krieg nutzte Toyota dazu sogenannte Kanban-Karten. In den Fabriken des Unternehmens dienten sie als betriebsinterne Auftragsformulare, die an Maschinenteilen angebracht wurden, während diese die Montage durchliefen. Wurde Nachschub benötigt, reichten die Arbeiter:innen die entsprechende Karte nach vorne durch, wo das Teil dann sofort produziert wurde: Die Just-in-time-Produktion war geboren. Auf die Idee zum neuen Fertigungsablauf war der japanische Ingenieur Taiichi Ōno beim Besuch eines Supermarkts in den USA gekommen.
Von wegen harmonisch
Just-in-time erregte bald weltweit Aufsehen, vor allem, nachdem Japan zum führenden Automobilhersteller der Welt aufgestiegen war. Für Dommann markiert das zugleich die «Globalisierung des Managementdiskurses». In diesem meldeten sich aber auch kritische Stimmen zu Wort. So wiesen Sozialwissenschaftler:innen darauf hin, dass die «harmonischen Arbeitsbeziehungen», die Toyota mittels Kanban-Karten installiert haben wollte, vor allem das Resultat von Massenentlassungen und der Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung gewesen seien.
Überhaupt streicht Dommann heraus, dass logistische Neuerungen nicht bloss der «Rationalisierung», sondern auch als Kontroll- und Disziplinartechniken dienten. «Die Macht ist logistisch» lautete nicht von ungefähr eine Parole bei den Protesten gegen den G20-Gipfel im Jahr 2017 in Hamburg. Allerdings liegt Dommanns Fokus weniger auf einer Machttheorie der Logistik, als Historikerin bleibt sie meist nah an den Quellen, die eine eigenartige Faszination ausstrahlen. Der planetare Materialstrom, er führt durch eine zugleich fremde und vertraute Welt, entlang von Flussdiagrammen, Pilzdeckenkonstruktionen und Verpackungshieroglyphen.
