EU-Aussengrenze: «Frontex ist ein Symptom»
Die EU-Abgeordnete Tineke Strik untersucht mutmassliche Menschenrechtsverletzungen durch die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Im Gespräch erklärt sie, wie diese zu einer Polizeimacht fast ohne Aufsicht werden konnte.
WOZ: Frau Strik, Sie untersuchen mit einer Arbeitsgruppe die Vorwürfe gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Worum geht es konkret?
Tineke Strik: Es geht um die Vorwürfe bezüglich Menschenrechtsverletzungen an der europäischen Aussengrenze und die Rolle, die Frontex dabei spielt. Direkter Anlass dafür sind die Berichte der Investigativplattform «Bellingcat» über die griechischen Pushbacks, bei denen Frontex Zeugin war – oder an denen die Agentur womöglich selbst beteiligt war. Wir schauen, wie Frontex mit solchen Situationen und der Kritik daran umgeht: Haben die Menschenrechte Priorität? Hält man sich an die Verordnung, sich aus einer Operation zurückzuziehen und die Finanzierung auszusetzen, wenn die Menschenrechte nicht garantiert werden können? Schliesslich: Funktionieren die internen Mechanismen ausreichend, um auf Kritik wie diese zu reagieren?
Weshalb sind die Pushbacks illegal?
Die Pushbacks verstossen gleich doppelt gegen die Menschenrechte: MigrantInnen, die nach Europa kommen, müssen immer eine Gelegenheit erhalten, um hier Asyl zu beantragen. Und bei einer Rückschaffung muss individuell festgestellt werden, ob dieser Schritt sicher ist oder nicht. Gerade bei Pushbacks auf hoher See wie in Griechenland werden Menschen gefährdet, aber auch an der kroatischen Grenze sind sie nicht vor Gewalt und Folter geschützt.
Wie hat die Politik bisher auf die Rückweisungen reagiert?
Zynisch gesagt, werden die Pushbacks als Kollateralschäden akzeptiert. Die Abweisung von MigrantInnen scheint mehr zu zählen. Die Priorität der EU-Staaten ist schon lange, die Grenzen möglichst dicht zu halten. Ich habe griechische und kroatische Autoritäten darauf angesprochen. Nachdem sie die Rückweisungen erst abgestritten hatten, hiess es von der kroatischen Regierung: «Wir hatten ja den deutschen Innenminister Horst Seehofer zu Besuch, und der begrüsste die Grenzpolitik sehr!» Die Länder an den Aussengrenzen bekommen von den übrigen Ländern also ein klares Signal, dass sie alles prima machen.
Warum dauerte es so lange, bis eine Untersuchungskommission eingesetzt wurde?
Die progressiven Parteien im EU-Parlament schlugen schon öfters Alarm, aber wir fanden nur wenig Gehör. Erst die Berichte von «Bellingcat» haben unwiderlegbar gezeigt, dass Frontex in verschiedene Situationen involviert war, bei denen Pushbacks stattfanden. Als EU-Agentur ist Frontex gegenüber dem Parlament verantwortlich. Darum können wir in diesem Fall mehr erreichen als bei Menschenrechtsverletzungen der Mitgliedstaaten. Bei illegalen Rückweisungen der Mitgliedstaaten müsste eigentlich die EU-Kommission eingreifen, die für die Einhaltung des EU-Rechts verantwortlich ist. Im Fall Kroatiens befand sie, es gebe keinen Beweis für Menschenrechtsverletzungen und das Land sei reif für den Schengen-Beitritt. Immerhin bekamen wir die Kommission so weit, dass sie ein Monitoring einführte.
Frontex streitet die Beteiligung bei Pushbacks ab. Mangelt es den Verantwortlichen der Organisation an Unrechtsbewusstsein?
Die erste Reaktion von Fabrice Leggeri, dem Direktor von Frontex, auf die «Bellingcat»-Berichte war sehr bizarr: «Das ist nicht wahr, und darum brauchen wir auch keine Untersuchungen!» Daraufhin wurde er vom Verwaltungsrat der Agentur wie von der EU-Kommission zurückgepfiffen. Doch selbst dann meinte er noch, die Untersuchungen sollten nur die juristischen Rahmenbedingungen betreffen. Das zeugt von einem enormen Widerstand dagegen, dass die Situation ernsthaft unter die Lupe genommen wird.
Der Satiriker Jan Böhmermann machte die engen Verbindungen von Frontex mit der Rüstungsindustrie publik. Leggeri bagatellisiert auch diese.
Wenn diese Vorwürfe zutreffen, sind sie besorgniserregend. Leggeri scheint enge Kontakte zur Waffenlobby zu pflegen, ohne darüber Transparenz zu schaffen. Offenbar hat er wenig Sensibilität und keine richtige Vorstellung von Good Governance.
Seit der Gründung 2004 ist Frontex rasant gewachsen. Was sind die Gründe dafür?
Frontex ist in der Tat wahnsinnig schnell gewachsen. Die Agentur verfügt über eigene Mittel, eigene Waffen und eigene Uniformen, sie wurde zu einer Art Polizeimacht. Frontex hat dazu immer mehr Aufgaben bekommen: Erst ging es nur um Hilfe bei Grenzkontrollen, aber mittlerweile geht es auch um die Rückschaffung von MigrantInnen und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten. Die Gründe für das Wachstum sind paradox. Die Staaten, die nicht an der Aussengrenze liegen, wollen immer mehr Garantien, dass diese Grenzen gut bewacht werden. Das ist die Grundbedingung, damit das Schengen-System funktioniert. Gleichzeitig trauen sie den Staaten an der Aussengrenze nicht zu, diese so gut zu bewachen, dass keine Menschen klandestin in die EU einreisen. In dieser Konstellation steigt die Bedeutung von Frontex immer weiter.
Wie steht es um die interne Kontrolle in dieser so rasant wachsenden Agentur?
Frontex hat wie jede andere Agentur der Europäischen Union einen Verwaltungsrat, in dem alle Mitgliedstaaten und zwei Vertreter der EU-Kommission sitzen. Die Mitgliedstaaten haben ein grosses Interesse an der Kontrolle der Aussengrenze. Beim Thema der Menschenrechte sind sie weniger kritisch. Die Kommission hat die Aufsicht über Frontex, aber ich finde diese Rolle etwas diffus. In letzter Zeit macht sie Frontex öffentlich aussergewöhnlich viele Vorwürfe. Daraus scheint Frustration zu sprechen, dass sie zu wenig Kontrolle hat. Im EU-Parlament wiederum bekommen wir sehr wenige vertrauliche Informationen. Frontex ist eine extrem geschlossene Organisation.
Ist Frontex ein Problem an sich, oder ist die Agentur eher ein Ausdruck der unzureichenden Asyl- und Migrationspolitik der EU?
Es geht zu weit zu sagen, dass Frontex an sich ein Problem sei. Die Aussengrenze ist so wichtig für die gesamte EU, um den freien Personenverkehr gewährleisten zu können: Da verstehe ich, dass man die dortigen Länder bei ihrer Bewachung unterstützt. Aber man muss sehr wohl dafür sorgen, dass aus Frontex kein Staat im Staat wird, dass die Organisation ihre Arbeit transparent macht und darüber ausreichend Auskunft gibt. Ausserdem sollten Grenzkontrollen Hand in Hand gehen mit dem Schutz der Menschenrechte. Wenn Frontex dabei eine aktive Rolle spielte und vor Ort einen korrigierenden Einfluss hätte, wäre das zu begrüssen. Wenn Frontex aber dasselbe tut wie manche Mitgliedstaaten, wird die Organisation zum Problem statt zur Lösung. Wenn die einen Mitgliedstaaten die Regeln verletzen und die anderen wegschauen, wenn das auch die EU-Kommission im Stillen gutheisst, dann entsteht eine Atmosphäre der Straflosigkeit. Frontex ist ein Teil davon – und so gesehen eher Symptom als Ursache.
Die Europäische Union gibt sich gerne als Hort der Freiheit und Menschenrechte, macht aber zur Migrationsabwehr Deals mit Ländern wie der Türkei und Libyen. Auch in Europa selbst werden zunehmend Praktiken angewendet, die diesen Werten entgegenstehen.
Das ist sehr besorgniserregend. Wir haben nicht nur eine Reputation zu verlieren, sondern müssen auch ein Ort sein, an dem unsere Werte für alle gelten. Ist dies für MigrantInnen an der Aussengrenze nicht der Fall, verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit, auch gegenüber Drittländern, die es mit Menschenrechten nicht so genau nehmen. Dazu kommt das interne Problem, dass die rechtsstaatlichen Standards sinken – nicht nur in Polen und Ungarn, sondern auch in Slowenien, Bulgarien oder Griechenland. Die Pushbacks und die Einschüchterung von NGOs, die für die Rechte von MigrantInnen aufkommen, sind Teil eines rechtsstaatlichen Problems.
Wie hat die Coronapandemie die Situation an den Aussengrenzen verändert?
Seit der Pandemie bekommen die Pushbacks noch weniger Aufmerksamkeit. Die Kontrolle der Aussengrenzen folgt jetzt auch einem gesundheitlichen Interesse. Die Leute haben anderes um die Ohren, und es ist politisch mehr oder weniger legitimiert, dass Grenzen komplett geschlossen sind. Das erleichtert Gewaltanwendung und Pushbacks. Man kommt auch nicht mehr leicht zu einem Arbeitsbesuch an die Aussengrenzen, und es gibt weniger Berichterstattung, weniger Augen und Ohren vor Ort. So werden die Aussengrenzen zu einem Gebiet, das schwer kontrollierbar ist.
Die Berichterstatterin
Tineke Strik (59) ist Professorin für Bürgerschafts- und Migrationsrecht an der Radboud-Universität Nijmegen. Seit 2019 vertritt sie die niederländische grüne Partei Groen Links im EU-Parlament. Dort ist sie Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Für dessen laufende Frontex-Untersuchung wird sie den Bericht verfassen.
Strik arbeitete erst als Jugendarbeiterin, bevor sie Rechtswissenschaften studierte. Später war sie als Rechtsschutzberaterin für die NGO Vluchtelingenwerk Nederland tätig.
Libe und Olaf Untersuchen: Die Grenzschutzagentur ist unter Druck
Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, kurz Libe: So heisst das Gremium, das im Europäischen Parlament für den Schutz der Grund- und Menschenrechte zuständig ist. Ende Januar hat der Libe-Ausschuss beschlossen, die Arbeits- und Funktionsweise der europäischen Grenzschutzagentur Frontex eingehend zu untersuchen.
Anlass dazu sind Medienberichte über illegale Pushbacks von Asylsuchenden und Vorwürfe bezüglich Menschenrechtsverletzungen, bei denen Frontex beteiligt gewesen sein soll oder die von ihren BeamtInnen aus der Nähe verfolgt wurden. Der Untersuchungskommission gehören vierzehn Abgeordnete an, je zwei pro Fraktion, die bis zum kommenden Sommer zweimal monatlich zusammenkommen. Die niederländische Grüne Tineke Strik sowie die maltesische Christdemokratin Roberta Metsola werden anschliessend den Bericht verfassen.
In der ersten Anhörung Anfang März wurden Frontex-Direktor Fabrice Leggeri und Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres, befragt, darauf folgte der Verwaltungsrat der Agentur. Er hat intern zu einer möglichen Beteiligung an Rückführungen ermittelt, dabei aber nach eigener Aussage keine Beweise für die Verletzung der Menschenrechte gefunden. In den nächsten vier Monaten werden bei weiteren Anhörungen auch JournalistInnen zu Wort kommen. Der Ausschuss will sich zudem um Zeugenaussagen betroffener MigrantInnen bemühen. Dazu sollen zahlreiche Dokumente gesichtet werden. Der Bericht soll bis zur Sommerpause des EU-Parlaments vorliegen und Empfehlungen zur Funktionsweise der Grenzschutzagentur enthalten.
Nicht zum Mandat gehört eine Untersuchung der engen Kontakte von Frontex zur Rüstungsindustrie. Der deutsche Satiriker Jan Böhmermann machte in seiner Sendung «Magazin Royale» im Februar die sogenannten Frontex-Files publik, in denen die Zusammenarbeit der Agentur mit der Waffenlobby dokumentiert wird. Sie lief regelmässig über LobbyistInnen, die nicht bei der EU registriert sind.
Auch jenseits der Libe-Ermittlungen steht Frontex wegen kontinuierlicher Anschuldigungen unter Druck. Im Dezember durchsuchte die EU-Antibetrugsbehörde Olaf Büros in der Warschauer Zentrale der Agentur, einschliesslich des Arbeitsplatzes von Direktor Leggeri, und verhörte Personal. Das EU-Parlament verweigerte Frontex zuletzt die Entlastung des laufenden Budgets aufgrund der Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen und mangelnder Transparenz.
Der Druck auf die Agentur dürfte hoch bleiben: Kurz vor Ostern twitterte der grüne Abgeordnete Erik Marquardt, er wolle 166 Gigabyte Videomaterial von Pushbacks durch die griechische Küstenwache von unabängigen ExpertInnen auswerten lassen. Für Frontex und die griechische Regierung bedeute das «viele unangenehme Fragen».
Als Schengen-Mitglied ist auch die Schweiz an Frontex beteiligt: Die jährliche finanzielle Unterstützung der Agentur soll von heute 17 Millionen Franken jährlich bis 2027 auf 96 Millionen steigen. Das Schweizer Grenzwachtkorps beteiligt sich auch mit immer mehr Personal an den Einsätzen der Agentur; die Schweiz ist zudem Mitglied im Verwaltungsrat von Frontex.
Tobias Müller