Nordzypern: Nicht ganz in Europa

Nr. 14 –

Tausende AfrikanerInnen kommen jedes Jahr nach Nordzypern, um zu studieren. Dort sind sie mit Rassismus konfrontiert – und sitzen fest, denn der türkische Teil der Insel gehört nicht zur EU.

  • «Ich habe mich an das aufdringliche Starren gewöhnt»: Die kenianische Studentin und Journalistin Kajuju Murori (34) in einer StudentInnenbeiz in der Nähe der amerikanischen Uni in Kyrenia/Girne.
  • «Der Blick auf das Mittelmeer war herrlich, aber ich konnte nicht aufhören, an die Menschen zu denken, die ihr Leben in ebendiesen Gewässern verloren hatten», schreibt Kajuju Murori in ihrer Reportage.
  • Hazan (26) aus Daressalam, Tansania, studiert Public Relations: «Im Moment bin ich müde. Ich habe fast jeden Winkel im nördlichen Inselteil besucht. Und ich habe mehrmals körperlichen oder verbalen Rassismus erlebt. Ich träume davon, Pilot zu werden – ­alles, was ich durchmache, ist Teil dieses Traums, ist ein Schritt dorthin, wo ich sein will.»
  • Nahe der Pufferzone: Seit 1974 trennt die «Grüne Linie» das Leben auf Zypern und in Nikosia.
  • Sharon (25) aus Nairobi, Kenia, Kajuju Muroris Schwester: «Ich studiere Tourismus und träume davon, als Flight ­Attendant in Dubai zu ­arbeiten.»
  • Sunday (30) aus Kampala, Uganda, macht einen Master als Englischlehrer: «Afrikanische Spieler sind von diesem Platz verbannt worden. Sie sagten, wenn sie uns hier finden, werden sie die Polizei rufen. Doch dies war unsere Zuflucht, wir haben hier Frieden gefunden, und wir haben das Recht, ihn zu nutzen. Wir können nirgendwo anders hingehen, aber wir haben Angst, hierherzukommen und zu spielen.»
  • Okito (31) aus Kinshasa, Kongo, Maschinenbau­student. «Einmal bin ich singend und Gitarre spielend durch Nikosia gezogen. Plötzlich kam die Polizei und verhaftete mich. Ich hatte unbemerkt die Grenze überschritten. Ich war drei Monate im Gefängnis. Wenn ich das Meer sehe, bekomme ich Lust, zu reisen. Aber seit diesem Moment damals fühle ich mich wie ein Gefangener auf dieser Insel.»
  • Suada (36), Sudanesin aus Ägypten, studiert Englisch. Ihr Mann, ein mosambika­nischer Arzt, arbei­tet in der Türkei. Dort kann sie ihn mit einem Visum besuchen. Um Geld zu verdienen, unterrichtet sie chinesische Kinder online in Englisch.
  • Dorcas (18) aus Kinshasa, Kongo: «Ich besuche einen englischen Vorbereitungskurs, danach möchte ich Wirtschaft studieren. In Nordzypern habe ich wenigstens eine Chance, zu studieren – im Unter­schied zum restlichen Europa. Ich glaube, Rassismus richtet sich hier nicht gegen Männer, nur gegen Frauen.»
  • Mit einem afrikanischen Pass ist bloss ein Teil zugänglich: Die geteilte Hauptstadt Nikosia.

Es war ein kalter Sonntagmorgen, als ich meine Familie am Jomo Kenyatta International Airport in Nairobi zum Abschied umarmte und küsste. In wenigen Wochen würde meine Schwester ihr erstes Kind zur Welt bringen. Sie stand dort etwas schwerfällig in den Armen ihres Mannes, des werdenden Vaters. Einen Augenblick lang wünschte ich mir, ich könnte ein wenig länger bleiben, um mit dem Baby zu helfen. Ich beobachtete die Augen meiner Mutter: Hätte sie geblinzelt, wären die Tränen geflossen. Stattdessen starrte sie in die Ferne. Ich löste meine Hand aus ihrem Klammergriff und eilte zum Terminal. Ich war 31 Jahre alt und auf dem Weg nach Europa. Zumindest glaubte ich das damals.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie länger als zwei Monate am Stück ausserhalb Kenias gelebt. Ich wuchs in einer gutbürgerlichen Familie in einer Kleinstadt auf; meine Mutter arbeitete hart, mein Vater diente in der Armee. Vor etwa zehn Jahren waren wir nach Nairobi gezogen, in die einzige Hauptstadt der Welt, in der es einen Nationalpark gibt. Eine Stadt, in der wilde Tiere wie Leoparden und Löwen sich häufig in Wohnsiedlungen und auf Schnellstrassen verirren.

Warum nicht rasch nach Paris?

Obwohl ich Nairobi aufregend und schön fand, war mir die Stadt zu voll und zu teuer. Ich arbeitete als Pressesprecherin für eine örtliche NGO, aber ich war nicht wirklich glücklich. Ich hatte immer davon geträumt, Schriftstellerin zu werden, Geschichten zu erzählen, zu reisen. Nach fünf Jahren beschloss ich zu kündigen. Damals, im Jahr 2014, waren Onlinejobs der neuste Trend in Kenia, und ich war zuversichtlich, dass ich als freiberufliche Journalistin würde arbeiten können. Bald sah ich ein, dass zehn Dollar pro Tausend-Wörter-Artikel nicht ausreichen würden, um davon meinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Wie viele Leute meiner Generation fand ich das Leben in Kenia herausfordernd: wegen der instabilen Wirtschaftslage, der Korruption und der Sicherheitsprobleme. Kenia ist in den vergangenen Jahren stark von islamistischem Terrorismus betroffen gewesen. Die Finanzkrise von 2008 hatte die Wirtschaft noch weiter lahmgelegt, und wie Millionen andere Menschen auf der Welt verloren auch zahlreiche KenianerInnen ihre Jobs. Viele junge Leute sahen sich gezwungen, ihr Glück im Ausland zu suchen. Im September 2017 packte auch ich meine Taschen und machte mich auf den Weg nach Zypern, um mich unserer jüngsten Schwester Kendi anzuschliessen, die sechs Monate zuvor zum Studium dorthin gegangen war.

Die Geschichten, die ich von meinen bereits im Ausland lebenden Verwandten hörte, klangen vielversprechend. Meine Cousine machte in London ihren Master in Filmbusiness. Innerhalb weniger Monate hatte sie einen Teilzeitjob als Kellnerin gefunden und dann eine richtige Anstellung bei einer deutschen Filmproduktionsfirma. Problemlos bereiste sie den Kontinent und besuchte in ihrer Freizeit Städte wie Amsterdam, Brüssel und Paris. In Afrika ist es schwierig, so umherzureisen, besonders für AfrikanerInnen selbst. Im Gegensatz zur EU gibt es in einigen Ländern eine Visumpflicht, daher ist Reisen nicht ganz billig.

Voller Hoffnung versuchte ich zunächst, mich an einer britischen Uni um ein Stipendium zu bewerben, das die Studiengebühren decken würde. Der renommierte kenianische Autor Ngugi wa Thiong’o hatte dort studiert. Aber ich schaffte es nicht, das restliche Geld aufzubringen. Zur gleichen Zeit lebte sich meine Schwester gut in Nordzypern ein. Bildung schien dort erschwinglicher zu sein, zudem verlangte Nordzypern von kenianischen StudentInnen keine Nachweise über Rücklagen auf ihren Bankkonten. Ich suchte eine spezialisierte Agentur in Nairobi auf, wo man mich durch den Bewerbungsprozess begleitete, allerdings ohne mich umfassend über die komplizierte politische Situation auf der Insel aufzuklären.

Mein Vermittler versicherte mir, dass ich mit einem gültigen Pass überallhin würde reisen können. Von einer der zwanzig Universitäten Nordzyperns erhielt ich eine Zusage für meine Bewerbung um einen Masterstudienplatz im Fach «English Language Teaching». Während ich alles für meine Abreise vorbereitete, fing ich wieder an, in Tagträumen zu schwelgen. Wenn ich einmal in Zypern sein würde, warum nicht einen Abstecher nach Frankreich machen? Ich hatte Französisch auf dem Gymnasium gelernt und wollte die Kultur erleben, die ich nur aus Büchern kannte. Oder, vielleicht noch besser, eine Reise nach Italien? Für mich als Katholikin wäre es ein echter Erfolg, das Land des Papstes zu besuchen. Ich wusste, dass meine Grossmutter – eine gläubige Katholikin, die sogar Latein sprach – davon begeistert gewesen wäre.

Im Flugzeug spähte ich aus dem Fenster und blinzelte in die grelle Nachmittagssonne. Der Himmel war klar, der Ausblick aufs Mittelmeer herrlich, aber ich musste dauernd an die Menschen denken, die in diesem Wasser ihr Leben verloren hatten. Ich fragte mich, weshalb westliche Länder sich so sehr sträubten, Geflüchtete aufzunehmen, während sie Kenia und Uganda finanziell unterstützten, wenn diese Länder MigrantInnen aus den Nachbarländern Sudan, Kongo, Burundi und Somalia aufnahmen.

Auch wenn ich vor meinem Umzug von der Trennung zwischen Zypern und Nordzypern gewusst hatte, so hatte ich doch keine Ahnung vom Ausmass der Einschränkungen, die die offizielle «Grüne Linie» mit sich bringt, die seit dem Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei 1974 die Insel in zwei Länder teilt. Der südliche Teil gehört zu Zypern, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, während die Türkische Republik Nordzypern (TRNZ) im Norden der Insel einzig von der Türkei als Staat anerkannt wird. Während meiner ersten Tage auf der Insel besuchten meine Schwester und ich die alte Hauptstadt Nikosia, eine der letzten geteilten Städte der Welt. Die wunderschöne Architektur – von den venezianischen Festungsmauern bis hin zur osmanischen Moschee aus dem 16. Jahrhundert – kann die Kriegsnarben jedoch nicht verbergen.

Am Rand der Stadt trennt ein Maschendraht die griechische von der türkischen Seite Zyperns: Die Pufferzone wird noch immer von Uno-Truppen überwacht. Bewaffnete Männer stehen an den Checkpoints der Hauptstadt, um sicherzustellen, dass von beiden Seiten aus nur befugte Personen – Einheimische oder TouristInnen mit europäischen oder amerikanischen Visa – die Demarkationslinie überqueren. Leute wie ich, die nur einen afrikanischen Reisepass haben, sitzen im Norden praktisch fest.

Als wäre ich eine Berühmtheit

Die TRNZ ist innerhalb Europas in einer Art Schwebezustand: So wie das blaue Wasser des Mittelmeers uns vom Rest der Welt isoliert, so erinnert die «Grüne Linie» ständig daran, dass ich und andere BürgerInnen der «Dritten Welt» sie nicht einfach überqueren können – nicht einmal, um zur Kirche zu gehen, etwas einzukaufen oder einen Freund zu besuchen.

Ich erinnere mich an einen dunklen und nassen Winterabend, als es zwischen einem Busfahrer und einem afrikanischen Studenten zu einem Wortgefecht kam. Der Fahrer hatte beschlossen, nur von AfrikanerInnen zu verlangen, dass sie ihre Studierendenausweise vorzeigen sollten – taten sie es nicht, mussten sie aussteigen. Dann stellten wir bei der Wohnungssuche schnell fest, dass wir wegen unserer Hautfarbe keine Wohnung bekamen. Ich war perplex, aber ganz so fremd war mir das nicht. Auch in Kenia kam es vor, dass Vermieter Immobilien nur an Menschen bestimmter ethnischer Gruppen vermieteten. Aber wie konnte ein Ort, von dem ich so lange geträumt hatte, mir derart die Luft zum Atmen nehmen?

Im Laufe der letzten zwei Jahre habe ich mich an die Kultur der Insel gewöhnt, an das aufdringliche Starren und den kühl-abweisenden Umgang mit mir. Ich habe gelernt, mir nicht alles so zu Herzen zu nehmen. An guten Tagen erlaube ich den Einheimischen sogar, sich mit mir fotografieren zu lassen oder mich zu fotografieren. In diesen Momenten tue ich so, als wäre ich eine Berühmtheit, aber ich frage mich, was diese Menschen später ihren FreundInnen und Verwandten erzählen werden.

Ich habe gelernt, einige regionale Gerichte zuzubereiten, und weiss mittlerweile sogar Snacks wie Oliven und Käse zu schätzen. Wenn ich die öffentliche Toilette benutze, werfe ich benutzte Taschentücher in den dafür vorgesehenen Eimer, obwohl sich alles in mir dagegen sträubt, da wir diese Tücher in Kenia die Toilette hinunterspülen. Heute scheue ich mich nicht mehr davor, mit Einheimischen zu kommunizieren, obwohl wir uns wegen mancher Sprachschwierigkeiten nicht immer auf Anhieb verstehen. Vor allem aber fühle ich mich sicher, selbst wenn ich mit Diskriminierung konfrontiert werde. Mein Handy kann ich sorglos in den Gesässtaschen meiner Jeans mit mir herumtragen. In Nairobi werden einem Handys und Handtaschen sogar aus fahrenden Fahrzeugen heraus geklaut.

Wider Erwarten begegnete ich vor einem Jahr einem hochgewachsenen griechischen Zyprioten mit funkelnden grünbraunen Augen. Er lebt in Limassol, im südlichen Teil der Insel, direkt gegenüber von Kyrenia, wo ich lebe. Wegen der Teilung muss mein Freund den ganzen Weg in die Hauptstadt fahren und dort den Checkpoint passieren, wenn er mich sehen will. Wenn die Grenzen uns im Stich lassen, ermöglicht uns zum Glück das Internet, uns zu «treffen» und frei zu kommunizieren. Wir führen eine Fernbeziehung, obwohl wir nur wenige Kilometer voneinander entfernt leben. Ich kann ihn nicht besuchen.

Die Situation in Zypern erinnert mich manchmal an die Insel Migingo im Victoriasee, an der Grenze zwischen Kenia und Uganda – seit langem Ursache für Spannungen zwischen den beiden Ländern. Jahrelang sind Versuche, den Territorialstreit mithilfe von gemeinsamen Grenzkontrollen beizulegen, erfolglos geblieben. 2009 haben sich beide Länder geeinigt, die Insel mit einer Demarkationslinie aufzuteilen. Gleichzeitig wurden ugandische Polizisten, die kenianische Fischer schikanierten, von ihren Posten entfernt. Vielleicht wäre so eine Schlichtung auch hier möglich?

Diese Reportage wurde durch das #blueborder-Projekt des Onlinemagazins «Cafébabel» ermöglicht. Aus dem Englischen von Jaleh Ojan.

Coronafolgen in Nordzypern

Am 9. März 2020 wurde in der Türkischen Republik Nordzypern der erste Coronafall registriert. Am 11. März hätte ich nach Frankreich fliegen sollen, um dieses Text- und Fotoprojekt zu lancieren. Stattdessen landete ich im Lockdown. Da in ihren afrikanischen Herkunftsländern Betriebe schliessen mussten, verloren viele StudentInnen die oft schon knappe Unterstützung ihrer Eltern. Im April beschränkten einige Länder wie Nigeria auch die Geldmenge, die mit Debitkarten im Ausland abgehoben werden konnte.

Die lokalen Behörden und Universitäten, teils auch bessergestellte ausländische KommilitonInnen, unterstützten StudentInnen, die sich das Essen nicht mehr leisten konnten. NGOs kümmerten sich um erkrankte Menschen und solche, die in Quarantäne mussten. Gleichzeitig wuchsen die Spannungen. Die Unterstützung der geschätzten 90 000 bis 120 000 ausländischen Arbeiterinnen und Studenten überforderte die Regierung. Manche PolitikerInnen äusserten offen die Ansicht, die Pandemie sei eine gute Chance, die Fremden loszuwerden. Der Unterricht an den Universitäten geht grösstenteils virtuell weiter. Viele StudentInnen sind inzwischen in ihre Herkunftsländer zurückgereist, um Kosten zu sparen, und besuchen die Onlinevorlesungen von dort aus. Die prekäre Elektrizitäts- und Internetversorgung in manchen Teilen Afrikas stellt sie allerdings vor Herausforderungen.

2018 setzte Nordzypern laut dem Wirtschaftsminister Hasan Tacoy im Bildungssektor 800 Millionen US-Dollar um. Vor Corona machten StudentInnen etwa dreissig Prozent der Bevölkerung aus. Die Pandemie hat für die «Bildungsinsel», die ökonomisch stark auf diese Einnahmequelle gesetzt hat, dramatische Konsequenzen.