Kommentar zum Rahmenabkommen mit der EU: Mut zum Abbruch

Nr. 17 –

Die Verhandlungen um das Rahmenabkommen mit der EU sind gescheitert. Wer traut sich nun, die Verantwortung zu übernehmen?

Fast taten sie einem schon leid, die wackeren Eidgenossen im Kampf gegen Brüssel. Am Freitag war Bundespräsident Guy Parmelin zum Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Brüssel gereist. Ein neuer Versuch, die Verhandlungen über das vermaledeite Rahmenabkommen doch noch ins Ziel zu bringen. Doch schon nach wenigen Stunden war mehr denn je klar, wie verfahren das Ganze ist.

Noch bevor sich der Bundesrat in der Schweizer Mission ans heimische Publikum wandte, hatte die Gegenseite ihre Giftpfeile schon verschossen: Man sei «schockiert» über die Schweiz. Statt, wie angenommen, nur einige Dinge «klarzustellen», wolle die Schweiz die drei umstrittenen Bereiche – den Lohnschutz, die «Unionsbürgerrichtlinie» und die staatlichen Beihilfen – gleich ganz aus dem Vertrag «ausklammern». «Nicht akzeptabel», befand die Kommission. Einmal mehr, wie so oft in diesen Verhandlungen, die bald schon sieben Jahre dauern, war die EU schneller. Und Parmelin blieb nichts anderes übrig, als deren Aussagen zu dementieren und den bohrenden Fragen auszuweichen. Beide Seiten schoben sich gegenseitig die Schuld zu. Wer zuerst blinzelt, verliert.

Auch am Montag, als sich Parmelin und Aussenminister Ignazio Cassis den AussenpolitikerInnen im Parlament stellten, ging das kommunikative Chaos weiter. Doch je länger man die Szene verfolgte, desto klarer wurde, dass das Abkommen wohl nicht mehr zu retten ist. Parmelin selbst sprach am Abend von «fundamentalen Differenzen».

Einer der beiden Knackpunkte ist dabei laut Cassis die unterschiedliche Auslegung der Personenfreizügigkeit. «Für die Schweiz geht es primär um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien, für die EU um jene aller Unionsbürger.» Die zweite Unstimmigkeit betreffe die flankierenden Massnahmen. «Für die Schweiz geht es um die Gewährleistung des Lohnschutzes, für die EU steht der Schutz gegen Wettbewerbsverzerrung im Vordergrund.» Wie sich diese beiden Positionen vereinbaren lassen, ist nach wie vor völlig unklar. Uneinig darüber ist man sich auch im Parlament.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, haben sich die AussenpolitikerInnen im Nationalrat wohl gedacht, als sie den Bundesrat am Montag zum Weiterverhandeln aufforderten. Die Mehrheit der Kommission, in deren Reihen die RahmenvertragsenthusiastInnen unter der Bundeshauskuppel sitzen, hoffe weiterhin auf ein «zufriedenstellendes Ergebnis».

Schon völlig anders tönte es am Abend beim ständerätlichen Pendant: «Der Ball liegt klar bei der EU», sagte Christian Levrat, «sie muss entscheiden, ob Verhandlungen sinnvoll sind.» Wenn sich die EU nicht bewege, werde der Bundesrat die Verhandlungen abbrechen, meinte Damian Müller, der Präsident der Aussenpolitischen Kommission. Den Auftrag dazu wollte man ihm dann aber doch nicht erteilen – ebenso wenig wie einen zur Weiterführung der Verhandlungen. Bloss keine Verantwortung übernehmen.

Und während die Schweiz, intern so zerstritten wie eh und je, noch über den Unterschied zwischen «Immunisierung» und «Klarstellung» debattiert und darüber, wer nun was gesagt und wie gemeint hat, kündigte die EU neue Sanktionen an: Solange das Parlament die «Kohäsionsgelder» an die ärmeren EU-Staaten nicht freigebe, die die Schweiz der EU in deren Augen schuldet, wolle man auch nicht über die Schweizer Teilnahme am 95-Milliarden-Forschungsprogramm Horizon Europe reden.

So sehr man die Kompromisslosigkeit der EU kritisieren kann – der Bundesrat hat sich die Misere selbst zuzuschreiben: Er hat es nicht geschafft, die Interessen der Schweizer AkteurInnen zu bündeln. Schlimmer noch: Ein Plan B bleibt auch nach dem Showdown der letzten Tage bloss Wunschdenken, Aussitzen die einzige erkennbare Strategie.

Und so schieben sich alle weiterhin gegenseitig die Verantwortung zu – und niemand hat den Mut zum Abbruch. Oder, wie Friedrich Dürrenmatt 1990 in seiner berühmten Gefängnis-Rede kritisierte: Wo alle verantwortlich sind, ist niemand verantwortlich. Für das Verhältnis zu den europäischen NachbarInnen die wohl schlechteste Aussicht.