Militärmanöver auf der Krim: Kontrollierte Eskalationen

Nr. 18 –

Zwar hat Russland seine Truppen von der ukrainischen Grenze und der Krim abgezogen. Doch Moskau baut seine militärische Präsenz rund um das Schwarze Meer weiter aus.

Der Krieg in der Ostukraine kommt nur noch selten in den Schlagzeilen vor. Dabei drohte erst kürzlich wieder eine Eskalation. Rund 80 000 bis 100 000 SoldatInnen hatte das russische Heer im April an der Grenze zur Ukraine und auf der annektierten Krim zusammengezogen. Eine geplante Invasion? Oder doch nur Säbelrasseln? Nachdem der russische Verteidigungsminister Sergei Schojgu die Truppen wieder zurückgepfiffen hatte, schien die Gefahr einer weiteren Zuspitzung vorerst gebannt. Doch der Truppenaufmarsch bleibt nicht ohne Folgen; tatsächlich werden nicht alle SoldatInnen abgezogen. So bleibt weiterhin ein grosses Waffenlager nahe der südrussischen Stadt Woronesch bestehen, und mehr als ein Dutzend Kriegsschiffe der Kaspischen Flottille kreuzen immer noch im Schwarzen Meer. Die Luftlandetruppen bleiben auf der Krim stationiert, wo auch ein neues Lager mit tausend Militärfahrzeugen entstanden sein soll, wie Recherchen des «Spiegels» ergeben haben.

Moskau behauptet, die Aufrüstung diene nur Übungszwecken. Aber gerade am Schwarzen Meer hat Russland immer wieder fernab des Völkerrechts mit Waffen Fakten geschaffen. Etwa im Jahr 2014, als nach der Kiewer Maidan-Revolution russische SoldatInnen die ukrainische Halbinsel Krim besetzten. Daraufhin brach wenig später im Osten der Ukraine ein Krieg aus; die internationalen Bemühungen zielen seitdem darauf ab, das Blutvergiessen in eilig zusammengezimmerten Friedensplänen einzudämmen. Gekämpft wird dort aber weiterhin. Währenddessen hat Russland rund um die Halbinsel die Grenzen Schritt für Schritt weiter zu seinen Gunsten verschoben.

Eine schleichende Besetzung

Auch wenn der grosse Truppenaufmarsch vorbei ist – Russland weitet seine Kontrolle immer weiter aus. Erst dieser Tage hat Moskau eine rechtswidrige sechsmonatige Teilsperre für gewisse Küstengebiete der Krim sowie das Asowsche Meer, das Seitenmeer östlich der Krim, angekündigt. Dabei kontrolliert Russland heute schon über die Meerenge von Kertsch und die 2018 eröffnete Krim-Brücke die Zufahrt zum Asowschen Meer. Immer wieder kommt es hier zu Zwischenfällen. Der bisher aufsehenerregendste geschah 2018, als die russische Küstenwache ein ukrainisches Schiff rammte und 24 ukrainische MatrosInnen festnahm. Mit Sperrungen der Seewege wird den ukrainischen Hafenstädten am Asowschen Meer, Berdjansk und Mariupol, der Zugang erschwert. Das soll zu einer wirtschaftlichen Destabilisierung der Ukraine führen.

Aber auch westlich der Krim ist Russland sehr aktiv. Seit 2014 hat Moskau ukrainische Gasplattformen in der Bucht zwischen Odessa und der Krim annektiert und mit Radarsystemen ausgerüstet. Mancherorts in der Bucht beträgt der freie Korridor für die ukrainischen Schiffe nur noch 25 Kilometer – ein Seeweg, den russische Kriegsschiffe in einer Blitzaktion schliessen könnten, um die Ukraine und ihre einträglichen Häfen wie Odessa und Tschernomorsk vom Handel abzuschneiden. Russland lässt kaum eine Gelegenheit aus, um zu zeigen, wer auch in den Gewässern vor den ukrainisch kontrollierten Küsten das Sagen hat. Erst dieser Tage nahm die russische Küstenwache ukrainische FischerInnen in den Gewässern vor der Hafenstadt Otschakiw sechzig Kilometer östlich von Odessa fest. Dabei gehört das Territorium zur Wirtschaftszone der Ukraine.

Der Osteuropaexperte Wilfried Jilge warnt daher vor einer «schleichenden Besetzung des Schwarzen Meers durch Russland», an deren Ende die russische Marine die Wasserwege der gesamten nördlichen Schwarzmeerküste kontrollieren könnte. Jilge, der am Zentrum für Internationale Friedenseinsätze in Berlin forscht, beobachtet schon seit vielen Jahren das «systematische Dominanzstreben Russlands im Schwarzen Meer». Ein Streben, das Moskau mit seinem Truppenaufmarsch im April einmal mehr unterstrichen habe. Das Schwarze Meer spiele deswegen eine zentrale Rolle im «imperialen Design» Moskaus, um die gesamte Südflanke, vom Kaspischen über das Schwarze Meer bis zum östlichen Mittelmeer, zu stärken, so Jilge. Dabei kontrolliert Moskau bereits ein Drittel der gesamten Küstenlinie des Schwarzen Meers, über die Krim oder die abtrünnige Region Abchasien in Georgien, völkerrechtlich legitim aber nur etwa zehn Prozent. Allerdings gilt hier offenbar das Recht des Stärkeren.

Die Ukraine kann dem wenig entgegensetzen. Zwar hat die Armee stark aufgerüstet, doch dem russischen Heer ist die Ukraine vor allem zu Luft und zu See noch immer hoffnungslos unterlegen. Nach der Annexion hat Moskau seine Schwarzmeerflotte in Sewastopol mit Kurz- und Mittelstreckenraketen mächtig aufgerüstet.

Die Krimkrise betrifft auch Syrien

Überhaupt geht die militärische Bedeutung der Krim – von den dort stationierten Boden-Luft-Raketen und mobilen Flugabwehrsystemen mal abgesehen – schon weit über die Region hinaus. Die Krim ist zur «logistischen Lebensader» für russische Truppen in Syrien geworden, wie Forscher des Stockholm International Peace Research Institute in einer Studie schreiben. Mehr als die Hälfte der seegestützten Kalibr-Raketen nach Syrien werde von der russischen Schwarzmeerflotte abgefeuert.

Der Schutzschirm, den russische Luft- und Flugabwehrsysteme über die Region spannen, reicht sogar schon bis in den nördlichen Teil der Türkei. Im Ernstfall würde das der Nato erschweren, ihren Partner zu unterstützen. Dass die Türkei inzwischen die Ukraine mit Kampfdrohnen beliefert, macht die Sache nur noch brisanter. «Es ist unser oberstes Ziel, dass das Schwarze Meer ein Meer des Friedens, der Ruhe und der Kooperation bleibt», sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan beim Besuch seines ukrainischen Amtskollegen Wolodimir Selenski. Erdogan hat die Annexion der Krim immer wieder verurteilt und unterstützt auch die Minderheit der KrimtatarInnen, die auf der annektierten Halbinsel unterdrückt werden.

Moskau rechtfertigt seine Militärübungen auch damit, von der Nato eingekreist zu sein. Dass im Sommer ein Militärmanöver der USA und der Nato mit dem Namen «Defender-Europe 21» im Schwarzen Meer stattfinden soll, wird mit Misstrauen wahrgenommen. Der russische Truppenaufmarsch hatte deswegen auch den Zweck, ein «Signal an die USA» zu senden, «wie schnell Russland fähig ist, wesentliche Truppenteile in das Gebiet zu verlegen, und um dadurch lokale Vorherrschaft zu signalisieren», sagt der US-Militärexperte Michael Kofman. Doch es ist nicht die Nato, sondern Russland, das die Region seit Jahren destabilisiert. Alle ungelösten Konflikte in der Region werden massgeblich mit russischer Unterstützung am Leben erhalten, seien es nun die Konflikte um Abchasien in Georgien, Transnistrien in der Republik Moldau oder der Krieg in der Ostukraine.

Seit mittlerweile sieben Jahren stehen sich dort im ukrainischen Landesinneren Regierungstruppen und sogenannte prorussische Separatisten gegenüber. Rund 13 000 Todesopfer hat der Krieg laut Angaben der Vereinten Nationen bisher gefordert. Von hier werden keine russischen Truppen abgezogen, ist es doch ein Krieg, zu dem sich Moskau bis heute nicht bekennt.