Geopolitik: Wie können beide Seiten das Gesicht wahren?
Während sich die militärische Situation an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine zuspitzt, spekuliert die Welt über Präsident Putins wahre Ziele. Wege aus der geopolitischen Sackgasse bestehen durchaus – vorausgesetzt wäre unter anderem die Aufrichtigkeit der Nato-Staaten.
Seit etlichen Jahren eskalieren die Konflikte zwischen Russland und den 33 westlichen, in Nato und EU zusammengeschlossenen Staaten. Für die aktuelle – und seit Ende des Kalten Krieges gefährlichste – Zuspitzung ist zweifelsohne die Regierung von Russlands Präsident Wladimir Putin verantwortlich; die massive Konzentration von Truppen und schweren Waffen an der Grenze zur Ukraine, verbunden mit aggressiver Rhetorik, wird verständlicherweise als Bedrohung wahrgenommen. Nicht nur in der Ukraine, sondern insbesondere auch in den osteuropäischen Nato- und EU-Mitgliedstaaten.
Zwar beteuern russische Politiker und Militärs immer wieder, man plane «keinen Angriff auf ein Nachbarland», sondern nehme lediglich «das souveräne Recht zu Militärmanövern auf dem eigenen Territorium» wahr. Angesichts der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im März 2014 und der seitdem anhaltenden militärischen Unterstützung der Separatist:innen im ostukrainischen Donbass vermögen solche Beteuerungen die aktuellen Bedrohungsängste aber nicht zu beruhigen.
Mitverantwortung anerkennen
Eine Deeskalation der zugespitzten Lage und die unbedingte Vermeidung eines Krieges über die bisherigen militärischen Auseinandersetzungen im Donbass hinaus sollten für alle Beteiligten und politisch Verantwortlichen oberste Priorität haben. Das wird kaum möglich sein ohne zumindest einen weitgehenden Abzug der russischen Streitkräfte und Waffen aus den grenznahen Regionen. Sollte der Kreml diesen Schritt tatsächlich vollziehen, stehen die westlichen Staaten anschliessend vor einer kaum weniger grossen Herausforderung: Sie müssten endlich das Narrativ aufgeben, nach dem die Verschlechterung der westlichen Beziehungen zu Russland erst mit der Krim-Annexion vor acht Jahren begonnen habe.
Tatsächlich begann die Verschlechterung der Beziehungen nämlich bereits mit der Ostausdehnung der Nato, die seit den 1990er Jahren vollzogen wurde – unter dem Bruch nachweislich gemachter Zusagen an Russlands damaligen Präsidenten Michail Gorbatschow sowie unter Irreführung von dessen Nachfolger Boris Jelzin.* Bis heute rechtfertigt die westliche Militärallianz ihre bisherige – genauso wie die künftig geplante – Ostausdehnung gerne mit den «legitimen Sicherheitsinteressen» ihrer Mitgliedstaaten. Damit werden auch die militärischen Manöver der Nato in der Nähe zur russischen Grenze gerechtfertigt sowie die ständige (wenn auch «rotierende») Stationierung von 7000 Nato-Soldat:innen in Polen und den drei baltischen Staaten. Ein vergleichbarer Anspruch auf «legitime Sicherheitsinteressen» wird Russland nicht zugestanden.
Nur wenn die westlichen Staaten diese Haltung aufgeben, ihre Mitverantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland anerkennen und daraus auch praktische politische Konsequenzen für die künftige Gestaltung dieser Beziehungen ziehen, besteht eine Chance für deren dauerhafte Verbesserung. Und damit für Stabilität und Kooperation auf dem gemeinsamen eurasischen Kontinent.
Die dringend notwendige Deeskalation wird indes erschwert durch die Unsicherheit über die eigentlichen Ziele, die Putin mit dem Truppenaufmarsch verfolgt. Eine grossflächige Invasion der Ukraine ist zwar nicht völlig auszuschliessen, gilt unter westlichen wie russischen – sowohl kremlnahen wie kremlkritischen – Analyst:innen aber als unwahrscheinlichstes Szenario. Schon für eher möglich gehalten wird ein Versuch Russlands, den Donbass militärisch zu besetzen und die Region dann ähnlich der Krim 2014 in Russland einzugliedern. Und zwar mit der Rechtfertigung, damit die inzwischen über 400 000 mit russischen Pässen ausgestatteten Einwohner:innen der beiden Provinzen Donezk und Luhansk vor einem Angriff der ukrainischen Regierungsstreitkräfte zu schützen. Darüber hinaus, so wird spekuliert, könnten die russischen Truppen so den Nord-Krim-Wasserkanal bis zum Fluss Dnipro unter ihre Kontrolle bringen. So liesse sich der chronische Wassermangel auf der Krim beenden: Die ukrainische Regierung hat die Wasserversorgung der Halbinsel nach der Annexion nämlich gestoppt.
Weitere Spekulationen betreffen zwei Vertragsentwürfe, die Putin den USA und der Nato Mitte Dezember übermittelt hat. Sie enthalten Vorschläge und Forderungen; darunter jene, dass weder die Ukraine noch andere ehemalige Sowjetrepubliken in die Nato aufgenommen werden dürften. Oder jene, dass in osteuropäischen Nato-Staaten auf die Stationierung von US-Truppen und die Nutzung amerikanischer Militärinfrastruktur zu verzichten sei. Glaubt Putin, mit seiner militärischen Drohkulisse diese Forderungen durchsetzen zu können?
Zugeständnisse sind nötig
Was auch immer Putins Absicht ist: Sein Handeln ist sehr stark innenpolitisch motiviert. Für seine Ukrainepolitik hat der Präsident in den ersten Jahren nach der Krimannexion in der Bevölkerung noch die Unterstützung von bis zu 85 Prozent der Befragten erhalten. Infolge der schlechten Wirtschaftslage und der Verarmung vieler Russ:innen, des Missmanagements in der Coronapandemie sowie der zunehmenden Repression gegen Regierungskritiker:innen bröckelte zuletzt jedoch sein Rückhalt. Die Eskalation eines aussenpolitischen Konflikts, verbunden mit dem Schüren nationalistischer Gefühle, ist ein Versuch, die Menschen wieder hinter der Regierung zu einen und Dissidenz zu unterbinden.
Ob das Kalkül aufgeht, ist zwar nicht sicher. Auf jeden Fall aber sollte der Westen jetzt mit Massnahmen und Vorschlägen reagieren, die Putin einen Rückzug der Streitkräfte unter Gesichtswahrung ermöglichen. Noch bis vor kurzem, in all den Jahren seit der Krim-Annexion, hätte eines der wichtigsten Signale des Westens in Richtung Kreml darin bestanden, auf die 2008 in Aussicht gestellte Aufnahme der Ukraine in die Nato zu verzichten. Damit hätte sich die negative Dynamik in der beidseitigen Beziehung umkehren lassen. Als souveräner Staat hat die Ukraine das Recht, sich frei für ein Bündnis zu entscheiden – das ist völkerrechtlich und formal völlig richtig. Genauso hätten die ebenfalls souveränen Nato-Mitgliedstaaten aber das Recht, sich aus Gründen der politischen Klugheit gegen einen Beitritt der Ukraine zu entscheiden. Nachdem Putin die entsprechende Forderung im Dezember nun aber offiziell und schriftlich vorgelegt hat, scheint deren Erfüllung durch die Nato vorerst verunmöglicht, ebenfalls aus Gründen der Gesichtswahrung.
Auf Verhandlungen zu einigen der Forderungen und der Vorschläge in Putins Vertragsentwürfen sollten sich die Nato-Staaten jetzt dennoch einlassen, insbesondere was die Rüstungskontrollpolitik betrifft. Und natürlich sollen sie dabei gleichwertige Schritte Russlands einfordern: etwa die Beendigung der militärischen Unterstützung der Separatist:innen im Donbass, den Verzicht auf die Stationierung von Mittelstreckenraketen wie auch den Rückzug der Truppen aus den beiden von Georgien abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien.
* Belege und Zeug:innen für die 1990 gemachten Zusagen an Gorbatschow, die Nato nicht nach Osten zu erweitern sowie die Irreführung von Jelzin in den Jahren 1991 bis 1996 unter folgenden Links:
nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early
www.spiegel.de/politik/absurde-vorstellung-a-a18a7cab-0002-0001-0000-00…
www.zeit.de/2019/26/nato-osterweiterung-russland-horst-teltschik-willia…
www.youtube.com/watch?v=o8rarwFKjw8&t=158s