Russland und die Ukraine: Der Krieg ist längst da
Rund 100 000 russische Soldaten an der Grenze, schwere Waffen, militärische Muskelspiele: Plant Wladimir Putin eine grosse Invasion in der Ukraine?
Das Gespräch sollte die Lage entschärfen, aber die russischen Truppen sind noch immer da. Obwohl Russlands Präsident Wladimir Putin vorige Woche zwei Stunden lang mit dem US-Präsidenten Joe Biden per Videoschalte konferierte, hat er seine Truppen von der Grenze zur Ukraine – Stand Redaktionsschluss – noch immer nicht abgezogen. Offensichtlich ist die russische Führung weder militärisch noch rhetorisch bereit, abzurüsten. Am Montag warnte der stellvertretende russische Aussenminister Sergei Riabkow erneut vor einer «Konfrontation» mit der Nato.
Einmal mehr hält Putin die Welt mit seinen militärischen Drohgebärden in Atem. Wie im Frühling, als russische Soldaten und schwere Geschütze an der Grenze zur Ukraine und auf der Krim auffuhren. Und wie damals fragt sich die Welt auch heute: Will Putin wirklich Krieg?
Die Frage sollte wohl eher lauten: Wie viel Krieg will er noch? Denn in der Ukraine führt Russland längst Krieg. Seit 2014 stehen sich in der Ostukraine entlang einer 450 Kilometer langen Frontlinie ukrainische Regierungstruppen und sogenannte prorussische Separatisten – von Russland kontrolliert, ausgerüstet und unterstützt – gegenüber. Ein Krieg, in dem bisher laut Uno-Angaben 13 000 Menschen gestorben sind. Die Frontlinie, die sogenannte Kontaktlinie, ist gesäumt von Schützengräben. Ein Stellungskrieg, mitten in Europa. Nicht an der Staatsgrenze, sondern auf ukrainischem Hoheitsgebiet. Mit Russland als Kriegspartei.
Medial beschönigt
Es ist ein Krieg, zu dem sich Moskau freilich bis heute nicht bekennt. Seinen Niederschlag findet das auch in der westlichen Berichterstattung, die stets von den «prorussischen Separatisten», «Milizen» oder gar den «Rebellen» spricht und Putins Rolle kaum direkt benennt, der diesen Krieg von Anfang an militärisch, finanziell und politisch massgeblich befeuert hat. Es ist paradox: Während sich international die Schlagzeilen über die mögliche Kriegsgefahr in Osteuropa überschlagen, ist der Krieg im Donbass längst vergessen (siehe WOZ Nr. 35/2021 ). Hinzu kommt, dass die Situation von Anfang an medial mit dem Euphemismus «Ukrainekrise» beschönigt wurde, wo es doch ein Krieg ist mit Frontverläufen, schweren Waffen und Toten. Kaum ein:e westliche:r Reporter:in findet noch den Weg an die ostukrainische Front.
Das macht es Putin leicht, den Diskurs über Sicherheitsfragen in Osteuropa zu verschieben. Die Begriffe umzudeuten, die Schuld umzukehren. Er fordert eine Zusicherung der Nato, die Ukraine nicht ins Militärbündnis aufzunehmen, eine Debatte, die es derzeit gar nicht gibt. Er spricht vom verletzten Sicherheitsgefühl der Russ:innen, von «Waffensystemen, die Russland bedrohen». Im Kreml fürchtet man sich angeblich vor einem Szenario wie in der Kubakrise 1962, als Nikita Chruschtschow sowjetische Raketen auf der Karibikinsel stationieren liess und die Welt an den Rand eines Atomkriegs brachte. Etwas Ähnliches könnten laut Putin die Nato-Partner in der Ukraine planen. Pläne dazu sind nicht bekannt. Vielmehr ist es Russland, das atomar bestückbare Raketen in Kaliningrad stationiert hat, die annektierte Krim hochrüstet und Waffen in den Donbass schickt.
Zuzutrauen ist Putin alles
Was will Putin also wirklich? So richtig weiss das wohl niemand. Es gehört zu seiner Strategie, die Welt über seine Absichten im Dunkeln zu lassen. An einer Eskalation der Lage habe er eigentlich kein Interesse, heisst es immer wieder. Aber zuzutrauen ist ihm alles. Es ist die alte Strategie, in Syrien wie in der Ukraine: die Lage vor Ort zu eskalieren, um dann am Verhandlungstisch zu deeskalieren. Als «aussenpolitisches Asset» für den Kreml hat der Russlandexperte Janis Kluge den Donbass einmal bezeichnet. Ein On-off-Krieg, der mit einem Truppenaufmarsch hochgedreht wird, wenn aussenpolitische Ziele erreicht werden sollen und wenn Putin im Staatsfernsehen als Politiker von Weltrang, auf Augenhöhe mit den USA, dargestellt werden will. Hinzu kommt diesmal aber eine alarmierende Rhetorik: Zwei Tage nach dem Gipfel mit Biden warnte Putin vor einem «Genozid» an der Bevölkerung in den Separatistengebieten. Ähnliche Töne hatte die russische Propaganda 2014 angeschlagen, bevor Russland die Krim annektierte und den Krieg im Donbass entfesselte, um dort angeblich die Rechte der russischsprachigen Ukrainer:innen zu schützen.
Um die «Volksbrüder» in der Ostukraine ging es Putin weder damals noch heute. Der Donbass war höchstens ein Puzzlestein auf dem Weg nach «Neurussland», um Teile der Ukraine zu zerschlagen und das russische Festland mit der Krim zu verbinden. Seine eigene Rolle in den Separatistengebieten verdeckt Russland aber inzwischen immer weniger: Seit 2019 werden russische Pässe an die Bewohner:innen ausgegeben, bei den Dumawahlen im Herbst wurden die Menschen aus Donezk und Luhansk in Bussen nach Russland gekarrt, um für die Putin nahestehende Partei Einiges Russland zu stimmen. Und Denis Puschilin, der Chef der selbsternannten «Donezker Volksrepublik»? Ist seit einigen Tagen selbst stolzes Mitglied der Kreml-Partei.