Pakistan: Pionierinnen auf Karachis Strassen
In Pakistan bestimmen Männer den öffentlichen Raum, für Frauen gilt das Land als eines der gefährlichsten der Welt. Doch nun getrauen sich immer mehr von ihnen, alleine mit einem Motorrad unterwegs zu sein.
Sie fahren beim Eindunkeln durch die Strassen Karachis. Auf ihren Motorrädern umkurven sie Autos und Rikschas, quetschen sich an bunt bemalten Bussen vorbei. Rund herum Gehupe, Motorenknattern, Staub liegt in der Luft an diesem Abend Ende Januar. An Kreuzungen halten sie neben Motorradfahrern, einige von ihnen starren erstaunt, manche grinsen in Richtung von Sana Yaqoob und ihrer Kollegin. Bis wenige Sekunden später der Verkehrspolizist winkt, die Motorräder aufheulen und sich wie ein Vogelschwarm den Weg durch das Chaos auf den Strassen der Hafenmetropole suchen.
Motorradfahrerinnen wie die 37-jährige Yaqoob gibt es in Pakistan erst wenige, obschon die Zweiräder zu den meistbenutzten Fahrzeugen im Land gehören. Üblicherweise ist der Platz der Frau auf dem Motorrad hinter dem Mann, beide Beine auf derselben Seite, denn Frauen im Reitersitz gelten als obszön.
Für Pakistanerinnen ist es schwierig, sich alleine fortzubewegen. Taxis und Rikschas sind teuer, die Infrastruktur des öffentlichen Verkehrs ist auf dem Land wie auch in den meisten Städten miserabel. Zudem zählt Pakistan für Frauen zu den gefährlichsten Ländern der Welt, viele fürchten sich im öffentlichen Verkehr vor Belästigungen und Übergriffen. So sind sie oftmals auf eine Begleitung angewiesen – ihren Mann, den Vater, einen Sohn oder auf eine Gruppe von Frauen. Laut der Uno ist die eingeschränkte Mobilität für Frauen in vielen Ländern ein Hindernis, um Geld verdienen oder sich weiterbilden zu können.
Der Traum von der Selbstständigkeit
Die Fahrschule Pink Riders will das ändern. Seit ihrer Eröffnung 2018 hat sie laut eigenen Angaben 4300 Motorradfahrerinnen in mehreren Städten Pakistans ausgebildet. «Ich fühle mich frei, wenn ich fahre, es ist das pure Glück des Unabhängig- und Selbstständigseins», sagt Yaqoob. Sie selbst lernte hier vor drei Jahren das Fahren, seither unterstützt sie diese Fahrschule in ihrer Freizeit als Organisatorin. Sie zieht ihr Handy hervor und zeigt ein Video von einer Gruppe Motorradfahrerinnen. Die Pink Riders, so nennen sich die Absolventinnen der Fahrschule, organisieren gelegentlich Rallyes, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie nehmen öffentlichen Raum ein in einem Land, in dem der vorgesehene Platz der Frau drinnen ist – da wo ihre Ehre, und somit die ihrer Familie, vor der Aussenwelt geschützt ist.
An diesem Sonntag Ende Januar steht Sana Yaqoob neben einem Motorrad auf einer leeren Strasse zwischen brachem Bauland, ganz im Süden von Karachi, der grössten Stadt des Landes. Vom Meer her weht ein frischer Wind. Den ganzen Nachmittag finden hier Fahrlektionen statt. Eine Handvoll Frauen üben mit der Hilfe von zwei jungen Fahrlehrern. Auf den Töff darf aber nur, wer Velo fahren kann.
Sairah Abbasi stülpt sich einen Helm über das weisse Kopftuch und steigt vorsichtig aufs Motorrad. Heute ist ihre vierte Fahrstunde. Die 21-Jährige tritt mit dem Fuss auf den Kickstarter, doch der Motor springt nicht an. Ein Lehrer kommt auf sie zu, sie tritt nochmals fester, der Motor brummt. Sie fährt einige Meter, beginnt zu schlenkern, der Fahrlehrer fasst sofort nach dem Griff am Hintersitz und hält sie aufrecht. Abbasi gibt erneut Gas, beschleunigt, während er neben ihr herrennt. Dann lässt er den Griff los, und sie rollt die gerade Strecke entlang. «Ich kann dieses Gefühl nicht in Worte fassen», sagt sie anschliessend mit strahlenden Augen.
Vor einiger Zeit erzählte sie ihrem Vater vom grossen Wunsch, Motorrad zu fahren. Er habe gesagt: «Dann tu es!» Ihr älterer Bruder begleitet sie nun zu den Fahrstunden. Er finde es gut, dass sie bald selber einkaufen gehen könne; und auch sonst, wenn etwas passiere, sei sie von niemandem abhängig. Die restliche Familie weiss nichts von Sairahs Abenteuer. Sie sagt: «Ich will sie überraschen.» Ihr Bruder glaubt, sobald sie den Führerschein habe, sei es für die anderen zu spät, um zu intervenieren.
Auch die Organisatorin Sana Yaqoob verriet es ihren Eltern erst, als sie schon fahren konnte. Ihr Vater, der ihr als Mädchen nicht erlaubte, aufs Velo zu steigen, leiht ihr nun sogar sein Motorrad aus. In der pakistanischen Gesellschaft geht es oft um eine zentrale Frage: «Log kya kahain gay?» (Urdu für: Was werden die Leute sagen?). Yaqoob konnte sich etwas von diesem Druck befreien, seit an ihr sowieso ein Stigma haftet: Sie ist geschieden und hat keine Kinder. Sie erfüllt also keine der Erwartungen, die zu erfüllen die meisten Mädchen erzogen werden: Ehefrau und Mutter zu sein. Yaqoob arbeitet im Personalwesen einer Lebensmittelfirma, dort ist sie die einzige Frau neben neun Männern. Auch damit gehört sie zu einer Minderheit, nur jede vierte bis fünfte Pakistanerin ist berufstätig. «Ich mache, was ich will», sagt sie. Und trotzdem verschweigt sie den Verwandten gegenüber, dass sie Motorrad fährt. Log kya kahain gay?
Die pakistanische Gesellschaft und Kultur sind islamisch geprägt, fast die ganze Bevölkerung besteht aus MuslimInnen. Der Staatsgründer Muhammad Ali Jinnah pries 1947 noch religiöse Toleranz, der Wendepunkt kam dreissig Jahre später mit dem Putsch von Militärdiktator Mohammed Zia-ul-Haq. Der General islamisierte das Land mit einer Reihe neuer Gesetze, was sich auch negativ auf die Rechte der Frauen auswirkte. Bis heute sind fundamentalistische Gruppen eine starke soziale Kraft im Land, die mit Massenprotesten ganze Stadtteile lahmlegen können.
Die Wut von Konservativen bekamen anfangs auch die Pink Riders zu spüren. Der Gründer Payyam-e-Khurram, der sein Geld als Eventmanager verdient und sich als Feminist bezeichnet, erzählt, die Leute hätten ihn als Zuhälter beschimpft. Auch Yaqoob erinnert sich, wie sie einmal während einer Fahrstunde auf einer Quartierstrasse von einem Anwohner angeschrien wurde: «Wieso seid ihr hier, habt ihr eine Bewilligung?» Er rief die Polizei, und nachdem diese ihm erklärt habe, es sei eine öffentliche Strasse und deswegen erlaubt, habe er gezetert: «Was ihr tut, ist religiös falsch, ihr seid keine guten Frauen!»
Allein durchs Land
In Pakistan gibt es unzählige verschiedene Meinungen darüber, welche Art des Islam die richtige ist; oft sind sich nicht einmal alle Familienmitglieder einig. Und besonders in den Grossstädten wächst eine neue Generation auf, die auf konservative Normen pfeift. Zu dieser gehört Zenith Irfan, die landesweit als «Motorcycle Girl» bekannt ist. Die 26-Jährige lebt in Lahore, der zweitgrössten Stadt Pakistans, rund tausend Kilometer nordöstlich von Karachi. Sie wohnt mit ihrer Mutter und dem Bruder zusammen; der Vater starb, als sie ein Baby war. Vor fünf Jahren wurde in den lokalen und internationalen Medien über sie berichtet, weil sie als erste Pakistanerin alleine auf dem Motorrad das Land durchquerte. Kurz danach wurde sogar ein Kinofilm über ihr Leben gedreht.
Alles begann, als sie sich mit sechzehn Jahren verliebte, erzählt sie mit ruhiger Stimme in ihrem Wohnzimmer. Die Beziehung zerbrach, und Irfan wusste nicht, wie sie den Liebeskummer überwinden sollte. Die meisten jungen Frauen können sich in solch einer Situation nicht ihren Angehörigen anvertrauen, die Familien fürchten um ihr Ansehen. Log kya kahain gay? Irfans Familie ist da lockerer. Ihre Mutter Rubina, die sich zum Gespräch dazu setzt, wollte, dass sich ihr Kind von dem Kummer ablenkt. Sie sagte ihrem Sohn, er solle mit seiner Schwester Motorradfahren üben. Auf der Quartierstrasse vor dem Wohnblock fuhren die beiden gemeinsam hin und her, irgendwann fuhr sie alleine. Davon, dass Frauen nicht in Reiterposition auf dem Motorrad sitzen sollten, hält ihre Mutter wenig: «Die Leute glauben so dummes Zeug, wie etwa dass bei dieser Art zu sitzen das Jungfernhäutchen kaputtgeht», sagt sie und verwirft die Hände.
Das Tabu bröckelt
Als Irfan studierte, wollte sie den Traum ihres verstorbenen Vaters verwirklichen, eine lange Reise mit dem Motorrad zu unternehmen. Sie fragte in der Bikerszene um Rat, und ein Fahrer, der selbst schon mit seiner Frau durchs Land gereist war, riet ihr: «Du schaffst das nicht alleine, du musst hinter einem Mann sitzen.» Irfan war entmutigt. Später bot ihr ein anderer Fahrer Hilfe an; er übte mit ihr zunächst auf kürzeren, später auf längeren Strecken. Ihr Bruder begleitete sie auf ihren Touren quer durchs Land. Als sie das erste Mal auf einer der Hauptverkehrsadern in Richtung der Hauptstadt Islamabad fuhr, war sie total eingeschüchtert: «Ich dachte, ein Lastwagen würde mich überfahren.» Auch ihre Mutter befürchtete, dass Irfans Motorrad unter der Last des Gepäcks kaputtgehen würde. «Ich sorgte mich sehr, doch dann schaute ich ihr in die Augen, sie war jemand anders. Auf einmal war ich ruhig. Mein ganzer Körper wusste, dass sie es schaffen würde.»
Irfans Bekanntheit hat dazu beigetragen, dass für PakistanerInnen der Anblick einer Motorradfahrerin ein wenig alltäglicher geworden ist. Das bemerkt auch Sana Yaqoob im Süden des Landes. Sie erzählt, dass ihr Männer beim Vorbeifahren immer mal wieder den erhobenen Daumen zeigen. Pink-Riders-Gründer Payyam-e-Khurram, hatte anfangs noch Mühe, Fahrschülerinnen zu finden. Letzten Frühling, während des Coronalockdowns, sei die Zahl der Anfragen hingegen rasant gestiegen.
Mittlerweile ist es 18 Uhr in Karachi, die Sonne steht tief am Himmel. Die Gruppe steht zusammen und diskutiert, wo in der Stadt sie noch Chai, einen gewürzten Milchtee, trinken gehen könnten. Dann steigen sie auf ihre Motorräder und düsen los Richtung Zentrum, tauchen ein ins Gewirr der Strasse. Sairah Abbasi sitzt seitlich hinter ihrem Bruder. Bald schon wird sie selbst fahren.