Eine Rasante Familie: Benzin im Blut, Marx im Regal
Ernst Häusler schraubte ein halbes Jahrhundert lang in Zürich Wipkingen an Motorrädern herum. Kurz vor dem Abriss: Ein letzter Besuch in der Werkstatt, von der aus auch schon sein «Däddel» zu Abenteuern aufbrach.
«Hier, das musst du lesen!» Ernst Häusler streckt mir bei meinem ersten Besuch zwei Marx-Bände entgegen. Fleckig und schartig sind sie, genauso wie der arg ramponierte, mit Ölflecken übersäte Holzboden seiner kleinen Werkstatt. Mehr als siebzig Jahre lang wurden hier Fahr- und Motorräder repariert. Davon ist kaum noch etwas zu sehen: Eine aufgeklappte Werkzeugkiste steht in einer Ecke, erschöpftes Mobiliar, da und dort halb gefüllte Schachteln, in einer Reihe vor den grossen Fenstern aufgebockt die letzten drei Motorräder. Hinter dem Haus werden die Bauvisiere demontiert, ein gelber Bagger zieht entlang der Grundstücksgrenze langsam einen Graben hinter sich her. Nicht mehr lange, und das Haus an der Zürcher Breitensteinstrasse wird abgerissen sein.
Wir stehen in einem Geisterhaus. Die drei Wohnungen, in einer von ihnen haben Ernst und Marlies Häusler vier Jahrzehnte lang gelebt, sind bereits leer geräumt. Im Untergeschoss, in einem feuchten Nebenraum der Werkstatt, lehnt sich mit letzter Kraft ein schiefer Bücherschrank gegen die Wand. Hier war einst das Büro. Auf den Regalbrettern: die Memoiren des Schweizer Kommunisten Karl Hofmaier, John Reeds «Zehn Tage, die die Welt erschütterten», gelbe Diogenes-Krimis, Bücher über Jazz oder die Zürcher Jugendunruhen. Dazwischen Werkzeug und Krimskrams. Dies dürfte die letzte Motorradwerkstatt der Schweiz gewesen sein, in der Rollgabel- und Zündkerzenschlüssel, Schraubenzieher und Drahtbürsten, fettverklumpte Putzfäden und sozialistische Bücher einhellig und seltsam gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Wie eine Kunstinstallation wirkt das alles.
Wipkingen und die weite Welt
Übervoll an Geschichten ist diese Werkstatt – für Ernst Häusler, geboren 1938, ist sie ein «heiliger Ort». Er sagt das augenzwinkernd, denn natürlich, rückt er die Dinge gleich zurecht, glaube er an keinen Gott. «Ich kann, weil ich will, was ich muss», zitiert er mit erhobenem Zeigefinger den Königsberger Philosophen Immanuel Kant. Da brauchts keinen Gott, erklärt Häusler, und schon springt er weiter. Sein Rede- und Zitatefluss ist gewaltig, die Stimme laut und fordernd.
«Mein Vater hiess auch Ernst, aber ich nenne ihn ‹Däddel›. Am 1. April 1941 hat er diese Werkstatt bezogen.» Abrupt dreht er sich um, tut zwei kurze Schritte zum Regal und zieht einen Papierstoss hervor. «Moment, Moment, ich hab hier ein paar Gedichte von ihm!»
Es ist nicht leicht, Häusler dazu zu bewegen, von sich selbst zu sprechen. Alles dreht sich um den Däddel, Ernst Häusler senior (1908–1985), den über alles verehrten Vater, den Kommunisten, den Motorradverrückten, den heimatverbundenen Weltenbummler, der auf zwei und manchmal drei Rädern vom hohen Norden bis ins nördliche Afrika gereist ist – und es doch fertiggebracht hat, in Zürich ein Leben lang an derselben Wipkinger Adresse zu wohnen. Zwischen dem Haus, in dem er geboren wurde, und den Fabrikgebäuden von Escher Wyss, in denen er von 1925 bis 1929 die Lehre als Maschinenschlosser absolvierte, fliesst ruhig und beschaulich die Limmat in ihrem flachen Bett; für den Schriftsteller Hugo Loetscher der bürgerliche der beiden Flüsse Zürichs.
In Kontakt mit der Einstiegsdroge kam Häusler senior 1931 in Frankreich. Danach hatte er Benzin im Blut. Und die Reiselust packte ihn. «Wenn einer geschickte Hände hat, kann er alles selber flicken an so einer Maschine, und auch wenn er wenig Geld hat, kommt er überall hin damit», spricht Häusler junior, der später in die väterlichen Fussstapfen trat, auf die väterlichen Fussraster stieg. Er holt Fotos hervor, Artikel aus einer Motorsportfachzeitschrift, die schon öfter über seinen Vater berichtet hat, diesen klein gewachsenen Mann mit dem energischen Gesichtsausdruck, von seiner Frau hinten auf dem Sattel um Kopfeslänge überragt.
Staubige Landstrassen oder ein dicktropfiger Regenvorhang; Schutzbrillen, Ledermäntel und klobige Motorräder; verwischte Menschen am Strassenrand oder menschenleere, schwarz-weisse Natur. Woher mögen solche Bilder nur kommen, die schon im Kopf flimmern, noch bevor ich ins Fotoalbum geschaut habe, das Häusler mir hinstreckt? Hybride Gestalten des mechanischen Zeitalters, ineinander verwachsene Strukturen aus Metall und Fleisch. Ist das Manövrieren anspruchsvoll, hängt es von kleinsten Gewichtsverlagerungen des Fahrers, der Fahrerin ab; dann heisst es, auf die Sattelspitze zu rücken, im sogenannten Tankschluss, wenn sich die Knie gegen den kühlen Benzintank pressen. Jeder Muskel im Körper angespannt, steif wie die Maschine. Zweirädrige Cyborgs.
Zelt und Schlafsack in den Saccochen, nahmen ArbeiterInnen in den motorradbegeisterten zwanziger und dreissiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die halbe Welt unter ihre Speichenräder. Die Karten waren gezeichnet, nun musste man sich das alles ansehen.
Auch Annemarie Schwarzenbach war von Erfahrungslust gepackt, als sie 1933 zum ersten Mal von der Türkei aus im Auto Vorderasien bereiste. Von der Zitadelle schaute die Seidenfabrikantentochter auf Aleppo hinunter, sah, wie die Stadt in der Nacht verschwand, bevor die Reisegruppe um die junge Frau weiterfuhr, durch die Syrische Wüste in Richtung Damaskus. Ihre Eindrücke und Begegnungen hielt Schwarzenbach in kurzen, kunstvollen, ungemein dichten Texten fest, auf denen eine feingliedrige Traurigkeit zu lasten scheint. Auch Ernst Häusler senior schrieb. In mitreissenden, holprigen Paar- und Kreuzreimen gab er dem Erlebten Form, machte es erzählbar, erinnerbar. 21 Gedichtseiten umfasst beispielsweise sein Lebenslauf, 16 die Biografie seines Motorrads der Marke MGC.
1930 hatten er und Elsa Roth geheiratet, heimlich, und daraufhin der Schweiz den Rücken gekehrt. In Südfrankreich arbeiteten sie in der Nähe von Lyon, verloren aber beide die Anstellung bald wieder. Auf dem Weg zurück in die Schweiz blieb das Ehepaar in Paris hängen. Sie fanden überraschenderweise Arbeit bei Renault. Als es im Februar 1934 zum Generalstreik kam, mit dem die ArbeiterInnen gegen einen Putschversuch der äussersten Rechten protestierten, brachen die grössten Unruhen seit der Pariser Kommune von 1871 aus. Die beiden Eheleute schlossen sich dem Streik an, erst zögerlich, wurden dann von den Ereignissen mitgerissen, sahen sich plötzlich in Barrikadenkämpfe verwickelt. Polizei und Militär gingen mit Härte vor, es wurde scharf geschossen, doch das Schweizer Paar lehnte es ab, sich auf Seiten der StreikbrecherInnen in Sicherheit zu begeben.
Die Quittung kam postwendend: Erst wurde Elsa, tags darauf Ernst Häusler entlassen. «So sitzen wir nun also beide auf dem Pflaster. Aber es reut uns nicht, mag kommen, was will», schreibt Häusler im Februar 1934 an seine Eltern nach Zürich.
Kurze Zeit später kehrte das Ehepaar zurück in die Schweiz. Häusler fand eine Stelle bei Saurer in Arbon, machte sich in Zürich 1941 als Fahrrad- und Motorradmechaniker selbstständig. Der Wirtschaftsaufschwung setzte im Nachkriegseuropa ein, und Häusler importierte dank seiner Sprachkenntnisse bald Fahrzeuge aus England, zuerst Motorräder vom Hersteller Velocette, danach welche von Greeves.
Ein Verkaufsschlager waren die Dreiradfahrzeuge von Reliant, damals eine kostengünstige Alternative zu teuren Autos. Später, mit dem Einstieg des Sohns in den sechziger Jahren, etablierte sich der kleine Betrieb an der Breitensteinstrasse als Spezialwerkstätte für CCM-Motocross-Maschinen.
Aus der Spur treten
Häusler junior sitzt auf einer Art Melkstuhl, den sein Vater aus einem Motorradsattel konstruiert hat. «Es ist erstaunlich, was der Mensch aushält!», deklamiert er, seine Fäuste mit den entblössten Unterarmen in die Luft gereckt, «wir haben früher ja alles mit Benzin geputzt, die Motorenteile, weisst du. Und schau dir meine Haut an, ist alles noch dran!»
Manchmal gelingt es ihm, beim Erzählen auf eine äussere Umlaufbahn zu gelangen, sich der väterlichen Schwerkraft zu entziehen. Aber nie für lange, immer wieder holt ihn die Vergangenheit ein. Die Vergangenheit seines Vaters. Es ist, als ob Häusler dieses andere Leben immer wieder selber durchlaufen würde.
Ich sitze ihm gegenüber, auf einem altersmüden Bürostuhl, dessen Polster platt wie eine Flunder ist. Die Motorräder fangen die schwache Frühlingssonne ein, zwei nigelnagelneue, hochbeinige CCM-Enduro und Häuslers alte, liebevoll gepflegte 125er-Honda. Er springt weiter in der Erzählung, nun ist es der vom Vater selbst gebaute Ölofen, der Gestank, die Hitze, die geschwärzte Wand dort hinten, schau nur, man siehts noch – und ja, nun kann ich es mir vorstellen.
Gegen den Motorenvirus des Vaters war kein Kraut gewachsen. Kaum war der Krieg vorbei, konstruierte Häusler einen kleinen Aluminiumsitz, in den der achtjährige Ernst gesteckt wurde, festgezurrt auf dem ledernen Sozius und eingeklemmt zwischen seinen Eltern. Später kam ein Seitenwagen dazu, ebenfalls handgefertigt. Aus der Zweirad- wurde eine Dreiradfamilie. So fuhren sie 1948 durch Italien und Frankreich, im Jahr darauf bis nach Tunesien und Algerien. 1950 ging die Reise unter anderem nach Leipzig und Dresden. In den niedergebombten deutschen Grossstädten waren die Strassen noch nicht freigeräumt, kaum passte das Gefährt der Häuslers zwischen die Kriegsmoränen, die Schutthügel, die links und rechts der Fahrbahn lagen.
Häusler junior fiel es schwer, sich anzupassen. Aufgrund von Lappalien wurde er 1953 per Behördenerlass aus der Sekundarschule verwiesen, im Alter von fünfzehn Jahren. Sein Vater setzte alle Hebel in Bewegung, tippte lange Briefe an Lehrer und Schulpflege. Die Massnahme sei vollkommen unverhältnismässig und werde seinen Jungen stigmatisieren. Er sei doch intelligent und könne, wie der Vater schrieb, «weder für seine Lebensumstände noch für seine Veranlagung etwas». Doch die Kreisschulpflege Waidberg liess nicht mit sich reden. Dem rebellischen Schüler mit dem Kommunistenvater wurden keine neun Schuljahre gegönnt.
«Ich wusste nicht, was aus mir werden soll», erinnert sich Häusler. «Zum Glück setzte mein Vater keinen Druck auf. Also dachte ich mir, ich möchte erst einmal ein wenig reisen und mir Gedanken über meine Zukunft machen.» Mit einem väterlichen Passierschein im Gepäck machte er sich, vom Schulalltag befreit, auf nach Paris. Per Autostopp. Er übernachtete auf dem Boden einer ExistenzialistInnenkneipe in Saint-Germain-des-Près, lernte in der Pariser AussenseiterInnenszene Künstlerinnen und Künstler kennen, ein Leben, wie es in Zürich keines gab.
Zurück zu Hause, bat er seine Eltern, für ihn eine Heuer als Messboy auf einem Hochseeschiff zu organisieren. Nun war die Unruhe vollends ausgebrochen. Ohne zu zögern, willigte sein Vater ein, liess sich Listen von Reedereien schicken. Die Wahl fiel auf einen Schweizer Frachtdampfer namens Anunciada: ein Stückgutfrachter, etwas über 130 Meter lang und mit seinem dampfbetriebenen Lastkran technisch schon nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Rasch war die erste grosse Fahrt gebucht, sie würde von London über Hamburg, Las Palmas und Walfischbai nach Kapstadt und um das Kap der Guten Hoffnung bis nach Lourenço Marques, heute Maputo, Hauptstadt Moçambiques, führen – und von dort wieder zurück nach Europa.
Mit der «Anunciada» ums Kap der Guten Hoffnung
«Den 16. Geburtstag feierte ich auf hoher See, und als wir den Äquator überquerten, wurde ich einer Taufe unterzogen. Gekrampft hab ich vierzehn Stunden am Tag, die Disziplin war hart, aber es war eine schöne Zeit, sie hat mich geformt, ich habe vieles gesehen.»
Als Messboy hatte er hauptsächlich Putzarbeiten zu erledigen, Schrubben hier und Schrubben dort, von früh morgens bis abends. Schiffsfunker wäre er gerne geworden, denn die hatten den einfachsten Job an Bord. Und als Schiffs-DJs spielten sie tagsüber Musik über die Bordlautsprecher. In der Funkerkabine stand dafür eine Sammlung von Schallplatten bereit. Begeistert schreibt Häusler nach Hause: «Kaufe die Platte ‹One O’Clock Jump› von Harry James, sie ist das Maximum!»
Häusler erzählt auch von den skandalösen Zuständen in den Häfen Afrikas. «Es war billiger, die Schiffe von Schwarzen be- und entladen zu lassen, als dafür Kräne zu benutzen. Es hat mich erschüttert zu sehen, wie sie schufteten und in welcher Armut sie trotzdem lebten.»
Er schrieb lange Briefe an seine Eltern, der Vater tippte sie auf der Schreibmaschine ab und sammelte sie in einem Ordner. Je weiter südlich der Teenager kam, umso stärker veränderte sich seine Sichtweise. In Walfischbai (damals Südwestafrika, heute Namibia) war er noch hin- und hergerissen vom kolonialen Chic. Ein Weisser lebe hier gut, vorstellbar, dass er sich später in dieser unwirtlichen Gegend niederlassen würde, schreibt der Sechzehnjährige. Anders dann, als die «Anunciada» in Kapstadt vor Anker lag. Im ausschliesslich «weissen» Stadtzentrum reihten sich Radiogeschäfte, Coiffeurs, Bars, Kinos und Schönheitssalons aneinander: «Angesichts dieser mondänen Welt», schreibt Häusler am 11. September 1954 auf hoher See, «stieg in mir der Hass auf, der mich noch zu einem Anarchisten werden lässt. Ich bin überzeugt, dass ich nur aus Hass reich werden und die höhere Gesellschaft stürzen kann. Das beste Mittel der Verteidigung ist der Angriff.»
Reich ist er nie geworden, sich selbst aber bezeichnet er als Anarchisten. «Wir haben zu Hause immer viel über Politik diskutiert. Der Däddel war ja eines der ersten PdA-Mitglieder. Es waren oft Politische zu Besuch. Die sassen dann stundenlang in der Küche an der Breitensteinstrasse und haben miteinander geredet. Da habe ich viel aufgeschnappt. Aber Parteimitglied, ich? Niemals! Anarchie bedeutet für mich, gegen Hierarchien zu sein, alles zu prüfen. Mein Vater war Kommunist aus Überzeugung, aber das waren auch andere Zeiten.»
In den Briefen beklagt sich der junge Häusler über die Seekrankheit, die ihn kaum mehr loslässt. War dies wirklich ein Leben für ihn? Der Zeitpunkt war gekommen, sich zu entscheiden. Die Heuer verlängern und die nächste Reise nach Japan mitmachen – oder doch zurück nach Zürich? Nie wieder, erklärt er dem Vater, würde er in einer schlaflosen Nacht über die Dächer der Escher-Wyss-Fabrik zum Üetliberg hinüberblicken können, ohne dabei an das unermüdliche Stampfen der vier Schiffskolben unter Deck zu denken.
Der Vater antwortet mit einem langen Brief, ermuntert ihn, doch noch länger auf See zu bleiben. Danach könne er jederzeit als Lehrling in seiner Werkstatt anfangen. Doch nach rund vier Monaten Fahrt ist Schluss. Häusler mustert in Hamburg ab. Die Seegurke – auf den Namen tauften sie ihn an Bord der «Anunciada» – wird wieder Landratte. Und ruhiger.
Hinter dem Eisernen Vorhang mit Steve McQueen
Im Frühsommer 1964 hörte Häusler vom bevorstehenden International Six Days Trial (ISDT) in Erfurt. Zum ersten Mal überhaupt würde die sogenannte Olympiade des Motorradgeländesports in der DDR stattfinden. «Ich wusste sofort, da muss ich hin!», erinnert sich Häusler, der zu diesem Zeitpunkt seit vier Jahren Motocrossrennen fuhr.
Seit drei Jahren stand die Berliner Mauer, und zwei Jahre waren vergangen, seit die Kubakrise die Welt an den Rand eines Atomkriegs geführt hatte. Die Schweiz mit ihrer wenig neutralen, stark gegen Westen hin ausgerichteten Neutralität war zu einem Echoraum des Kalten Kriegs geworden. Auf der nationalen Leistungs- und Selbstvergewisserungsschau der Expo 64 in Lausanne präsentierte sich das Land hoch technisiert, modern, reich und, ja, glücklich – kriegsverschont. Und vor allem: waffenstarrend gegen Osten hin, wie es der für die Expo hergestellte, Oscar-prämierte Film «Wehrhafte Schweiz» mit Knalleffekt von der Leinwand schleuderte.
In den ersten Septembertagen fuhren Marlies und Ernst Häusler mit der Vorführmaschine aus dem Geschäft seines Vaters, einer 250er Greeves, los in Richtung Thüringen. Ohne Visum. «Ich zeigte einfach meine internationale Rennfahrerlizenz, und man liess uns über die Grenze.» Häusler lacht und schüttelt den Kopf, als könnte er heute selber nicht verstehen, wie das möglich war.
Das Sechstagerennen von Erfurt stand im Bann der Teilnahme des US-amerikanischen Teams rund um Schauspieler Steve McQueen. Er zog die Massen an, der Held aus «The Magnificent Seven» («Die glorreichen Sieben») oder «The Great Escape» («Gesprengte Ketten»), jenem Film, dessen Höhepunkt eine wilde Verfolgungsszene zeigt, in der McQueen alias Captain Virgil Hilts in einer halsbrecherischen Motorradfahrt seinen Nazihäschern entkommt – gedreht zu grossen Teilen ohne Stuntman. Bloss für den spektakulären Sprung über einen Grenzzaun am Ende des Films hatte man einen Profi eingesetzt – Bud Ekins, der für McQueens Team ebenfalls in Erfurt startete.
Für die Führung der Deutschen Demokratischen Republik war es ein Coup: Der BRD war die Teilnahme hinter dem Eisernen Vorhang verboten worden, dafür stand ausgerechnet eine Mannschaft aus den USA am Start. Schon Tage vor Rennbeginn hielten sich die zehn US-amerikanischen Fahrer in Erfurt auf, begleitet von einem Tross aus Journalistinnen und Fotografen. Bis heute steht Steve McQueen im Zentrum der Berichte über diesen Moment motorengetriebenen Tauwetters mitten im Kalten Krieg, in Büchern, Zeitschriftenartikeln und selbstverständlich im Internet: der Schauspieler als Held, der kamerabewusst jeden Morgen lässig mit Kippe im Mund startete, für den das Rennen allerdings nach einigen Stürzen bereits in der dritten Etappe im thüringischen Wald zu Ende war. Je nach Quelle zwangen ihn Defekte an der Maschine oder ein gebrochenes Bein zur Aufgabe.
Das Rennen hatte unter widrigen Bedingungen im Dauerregen stattgefunden. Die Tagesetappen von um die 300 Kilometer Länge führten durch eine nicht enden wollende Schlammlandschaft, besonders im hügligen Riesengebirge, auf Strecken, die den Fahrern im Vorfeld nicht bekannt waren.
Es fällt Häusler nicht leicht, sich an die Six Days zu erinnern. Immer wieder zieht er sich in den väterlichen Erzählschatten zurück. Oder er spricht über Steve McQueen, respektvoll und kritisch zugleich. Ein netter Kerl sei er gewesen, zugänglich, sympathisch, ein Medienprofi. «Aber er war nicht hart, nicht ausdauernd genug. Kein Wunder, für ihn war das doch letzten Endes bloss ein Spiel. Schon das Einlaufen zum Start, mit dem grossen ‹Stars and Stripes›-Banner: Das war alles wie im Film. Ich kann gut verstehen, dass es einem wie ihm nach Hunderten Kilometern in Dreck und Kälte irgendwann einfach reichte.»
Eine Handvoll Fotografien hat Häusler vom Sechstagerennen aufbewahrt, einige Zeitungsartikel, in denen steht, worüber er lieber schweigt: «Ein Mann mit einem grossen Kämpferherz», einer, der nach zahlreichen Stürzen und von verschiedenen Verletzungen gezeichnet, «seit Tagen an der Grenze des Ausscheidens fährt», der «Held der Six Days 1964», am Ende auf einem der hintersten Plätze, aber ausgezeichnet mit einem Sonderpreis für die sportliche Leistung. Für das «Neue Deutschland», offizielles Presseorgan der DDR, war er schlicht «ein Kuriosum», dieser Fahrer mit der Startnummer 177, von weitem schon erkennbar am schweren Rucksack, den er an den ersten beiden Renntagen als Einziger mit sich trug. Häusler winkt ab: «Ich wollte bloss auf Nummer sicher gehen und hatte ja wie Max Morf, der andere Schweizer, der ebenfalls alleine fuhr, kein Team. Mein Motorrad war eigentlich gar nicht für solche langen Etappen gemacht, also dachte ich mir, es könne nicht schaden, die Ersatzteile jederzeit zur Hand zu haben. Und zwei Liter Benzin, falls der Most ausgeht.».
Die Staatszeitung münzte die Sympathien der ZuschauerInnen für den Schweizer Underdog in harte Propagandawährung um: In einem überschwänglichen Artikel vom 17. September 1964 lässt das «Neue Deutschland» Häusler ausgiebig die «wunderbaren Menschen» der DDR preisen.
Ein schlichter Pokal, er wirkt eher wie eine elegante Blumenvase, steht in der neuen Wohnung der Häuslers. Ansonsten erinnert nichts an die sechs Erfurter Tage. In der Schweiz nahm ausserhalb der Motorradsportszene niemand Notiz von Häuslers Erfolg, auch wenn ihn über Wochen noch bewundernde Telegramme und Briefe aus der DDR in Zürich erreichten.
Unter der kleinen Wohnwandvitrine mit der Six-Days-Auszeichnung liegt die Blechkiste mit der Asche des Vaters. Dreissig Jahre lang war sie neben der Werkstatt am Fuss einer Fichte begraben. Im Korridor, hinter der Wohnungstür, sein ausgestopfter Hund, so lebensecht auf einen Sockel genagelt, als könnte er sich jeden Augenblick losreissen. Immer noch ist Ernst Häusler damit beschäftigt, die letzten Reste aus der alten Werkstatt zu bergen. Was behalten, was wegschmeissen? «Die alten Rechnungen brauch ich nicht mehr, was meinst du? Schau mal, alles noch mit Schreibmaschine. Kann man das wegwerfen?» Ernst Häusler klammert sich an die Zeit.
Sechzehn Jahre lang ist Häusler Motocross- und Endurorennen gefahren. Der grosse Erfolg blieb aus; vielleicht, sagt er, sei er eben gar nicht wirklich dafür gemacht gewesen. Dabei kommt das Wort Enduro doch vom englischen «endurance» – also Ausdauer.
Die Drogen unter der Schirmmütze
Ein Leben lang schraubte Ernst Häusler in Zürich Wipkingen an CCM- und anderen Maschinen herum, kümmerte sich um Rotax-Rennmotoren, am liebsten mit den KundInnen zusammen. Auch als die Hells Angels in Zürich ihren ersten Ableger ausserhalb der USA gründeten, die Jugend unruhig wurde, Zürichs Strassen nach Jahrzehnten wieder einmal bebten, einen kurzen Sommer lang. Das alles habe ihn interessiert, der Versuch, der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Motorrad davonzufahren, und auch die Globuskrawalle. Aber er sei halt Einzelgänger – ausserhalb des Militärs uniformiert auf einem Töff zu hocken, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Und am Ende von «Easy Rider», jetzt wird er laut, stand der Tod, nicht die Freiheit.
«Am aufregendsten war für mich damals die Musik», antwortet er auf die Frage, wie er die Zeit um 1968 wahrgenommen habe. «Ten Years After, die Rolling Stones natürlich, Rory Gallagher, Johnny Winter, aber auch Jazz und alter Blues. Hauptsache, es ist Power in den Songs! Weisst du, manchmal läuft im Radio dieses Lied von Nirvana. Der Sänger von denen hat sich erschossen, dieser Tubel, aber das Stück, ja, man hört das genau, hat dieses Verzweifelte. Das find ich geil!»
Mitten in seinem Vortrag erhebt sich Ernst Häusler vom Sofa, gestikuliert und ringt zugleich mit den Armen ums Gleichgewicht. Auf der anderen Strassenseite könnte Häusler, würde er sich umdrehen, das alte Haus mit der Werkstatt sehen, unmittelbar vor dem Abriss. Er nimmt die Schirmmütze, sein Markenzeichen, ab. «Als mir einmal einer an der Langstrasse etwas andrehen wollte, habe ich meine Kappe gelüftet und mich vor ihm 360 Grad im Kreis gedreht und gesagt: ‹Da, schau, da drinnen produziere ich alle Drogen, die ich brauche!›»
Auf schweren Füssen dreht er sich auf dem Teppich in einem Kreis mit Unwucht um die eigene Achse, den Zeigefinger der rechten Hand auf seinen Kopf gerichtet.
Alle historischen Fotos stammen aus dem Privatarchiv Häusler.
In der WOZ vom 28. Juni 1985 wurde ein Text von Ernst Häusler senior abgedruckt: «Meine Strasse».
Dessen Nachlass wird mittlerweile im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich aufbewahrt. Auf Initiative von Ernst Häusler junior ist mit «Däddel» ein kurzer Film entstanden, der das Leben seines Vaters dokumentiert. Online unter: wipkingen.net/daddel-eine-wipkinger-lebensgeschichte-erzahlt-von-ernst-hausler.