Wichtig zu wissen: Abkanzeln, abmuschgen, abimpfen
Ruedi Widmer über Cancel Culture, Pressefreiheit und die Volkspolizei
Lust, Adolf Muschg zu lesen, habe ich nach dem ganzen Cancel-Culture-Geschrei ehrlich gesagt nicht gerade, aber das darf ich nicht laut sagen, das wäre ja schon eine Form von Bücherverbrennung. Ziemlich nach Cancel Culture riecht die Idee der Rechtskommission des Ständerats, den Artikel 266 der Zivilprozessordnung ZPO zu verschärfen, der «vorsorgliche Massnahmen» gegen Medien regelt. Der Walliser Ständerat Beat Rieder (CVP) ist an vorderster Front dabei («Es gibt zu viele Presseartikel, die auf Sensationen aus sind»). Ich fänds schade, würde in den Zeitungen nicht mehr über die Machenschaften der crazy Walliser Männerschar berichtet.
Die linke Zürcher Polizei (von einer grünen Stadträtin geführt) erledigt derweil für teures Steuergeld Aufgaben, die andernorts Bürger eigenverantwortlich und unentgeltlich übernehmen. Am 1. Mai wurden in Zürich Journalistinnen und Journalisten von der Polizei (!) eingekesselt und angezeigt. Skandalös. Bei der unbewilligten Demonstration der Coronaleugnerinnen und -leugner in Rapperswil SG hingegen wurde die Journalistenzunft in Freiwilligenarbeit von normalen Angehörigen des Volkes weggewiesen und angepöbelt («Lügenpresse raus!»). Die Polizei musste nur einige Selfies mit Demoteilnehmenden machen und blieb sonst in der Kaserne. Der Einsatz in Rapperswil hat den St. Galler Steuerzahler keinen müden Rappen gekostet. Was sich aber Frau Rykart in Zürich leistet, wird sich bei den Wahlen rächen. Eine solche Steuergeldverschwendung kann nur in einem links geführten Departement geschehen.
Die Leute geniessen den Frühling auf der Beizenterrasse, ohne lang zu maskeln, was soll denn noch dieses Gopfriedstutzkonzept. Canceln.
Der Verein der Verfassungsfreunde bekämpft das Covid-Gesetz («Beendet die freiheitliche Schweiz»). Die notrechtlichen Kompetenzen des Bundesrats dürften nicht bis Ende 2021 gelten, Medikamente würden zu schnell zugelassen, und auch die Aufforderung zur Impfung wird kritisiert. Da fragt man sich schon: Hätte die Schweiz gar nichts unternehmen sollen gegen Corona, als einziges Land der Erde («unique country»)? Wären dann unter dem Kult der unbefleckten Verfassung Hunderttausende Menschen gestorben, Millionen gleichzeitig krank geworden, die komplette Wirtschaft (nicht nur die Beizen) kaputtgegangen, das Chaos ausgebrochen? Na, Verfassungsfreundchen, das wäre doch mal eine Frage, die dir eine Journalistin oder ein Journalist stellen sollte. Aber wahrscheinlich würde sie schnell eingekesselt/gekübelt/gecancelt/geriedert.
Das offenbar riesige Interesse an der Verfassung war an einem wahlweisen Tag der Vergangenheit, sagen wir am 24. Mai 2003 (15 Uhr), auf schätzungsweise 20 bis 23 Leute beschränkt, die aber etwas davon verstanden.
Bräche eine Hungersnot aus, würde das Notrecht kritisiert: Das Essen von ausländischen Hilfskräften sei vergiftet, die Verhungernden in den Spitälern hätten schon früher gehungert – und fahnenschwenkend würden die «Freiheitlichen» die letzten Rationen wegschnabulieren («Ist doch kein Problem»).
Die Kantone überbieten sich im Impfwettrennen. Waadt: Impfung für alle über 18. Jura, Schwyz, Neuenburg: Impfung für alle über 16. Basel: Impfung für den FC Basel. Zürich: rückwirkende Impfung für Verstorbene. St. Gallen: gratis Anthroposophiekurse und Erinnerungsföteli mit Kantonspolizist für CoronagegnerInnen.
Ich möchte auch mal etwas impfkritisch sein dürfen, denn heute wurde ich auf einer Velotour massenweise von E-Bikes überholt, auf denen auffällig muntere SeniorInnen übers Land sausten. Man sah ihnen die Impfung sogar von hinten an, ebenso die Freudentränen in den Augen, und das ist auch gut so, selbst wenn die hechelnde, ungeimpfte Jugend (48) alt aussieht.
Ruedi Widmer impft, wie ihn die Spritze treffen wird.