Rinus Van de Velde: Im Kopf des Künstlers

Nr. 20 –

Handgemachter Eskapismus: In Luzern lässt uns der belgische Künstler Rinus Van de Velde durch fantastische Hirngespinste aus Pappe, Leim und Farbe wandeln.

Abstecher in die Unterwasserwelt: «La ruta natural» schliesst die Ausstellung im Kunstmuseum Luzern ab. Foto: Tim Van Laere Gallery, Antwerpen

Eine der Attraktionen der Art Basel 2019 war die originalgrosse Attrappe eines überschwemmten Häuschens, von dem nur das Giebeldach aus dem Wasser ragte. Auch wenn die Flut eine offensichtlich höchstens zwei Zentimeter tiefe schwarze Pfütze war, funktionierte «Prop, Flood, Roof» des belgischen Künstlers Rinus Van de Velde perfekt als Sinnestäuschung. Installiert im Lichthof des städtischen Falkensteinerhofs am Münsterplatz, bot das Werk eine Bühne für ein kommendes Theater – das nie losging. Ohne diese Aktivierung blieb es von jedem logischen Zusammenhang losgelöst, wie ein einsames, durchs All fliegendes Trümmerteil.

Die Ausstellung «I’d rather stay at home, …» im Kunstmuseum Luzern bettet «Prop, Flood, Roof» nun in Van de Veldes Gesamtuniversum ein – eine irritierende Fantasiewelt, die uns einsaugt. Seine obsessive Realisierung von Visionen in zwei oder drei Dimensionen wirkt etwas pubertär. Vielleicht ist er aber auch bloss das typische Exemplar eines Künstlers, der seine Ideen ohne Wenn und Aber umsetzt. Der 38-jährige Van de Velde ist alt genug, um zu wissen, dass sein Ansatz altmodisch ist. Gleichzeitig ist er jung genug, um uns voll Freude an seinen Einbildungen teilhaben zu lassen.

Betreten erlaubt

Beim Eingang der Ausstellung steht ein Sockel mit einer Silikonmaske des Künstlers, die suggeriert, wir könnten sogar in seinen Kopf schlüpfen. Doch gleich werden wir ermahnt: «Betreten erlaubt, Berühren verboten» – ein in der Ausstellung oft wiederholter praktischer Hinweis, der auch als Kommentar zu den Werken funktioniert.

Wir gehen weiter, betreten ein typisches amerikanisches Diner: Es ist Abend, ein Burger steht auf dem Tisch, aufgeschnitten zum Verzehr, aber unberührt. Neben der Sitzbank steht eine Aktentasche, im TV läuft eine Sportsendung. Alles – auch die Theke, die Tassen, die heruntergebrannte Zigarette im Aschenbecher, die Möbel und Lampen – wurde aus bemaltem Karton und Holzgerüsten nachgebaut. Zwei blutrote Farbspritzer auf dem Tisch und an der Wand markieren abwesende AkteurInnen. Aus der Ferne locken Geräusche.

Durch die Hintertür des Diners betritt man die zweite Hälfte des Ausstellungsraums, wo «The Villagers» läuft. Der vierzigminütige Film besteht aus Fragmenten: In fast allen kommen grosse, weisse Männer um die 35 wie der Künstler vor. Die Atmosphäre erinnert an David Lynch, mit fettem Sonnenuntergang und reflektiertem Neonlicht. Die Geräuschkulisse verstärkt diese Stimmung mit zirpenden Zikaden, klickenden Schaltern und den Glockentönen von Fahrstühlen. Doch auf der visuellen Ebene unterläuft der Film seine eigene Glaubwürdigkeit ständig. Die Protagonisten in ihren leicht abgetragenen, aber anständigen Kleidern bewohnen eine eindeutig künstliche Welt aus Plakatfarbe und Zellstoff: Der Künstler im Studio sortiert Kartonhüllen. Ein nächtlicher Autofahrer trifft auf eine Wand quer über die Autobahn, doch als sich das Bild weitet, merkt man, dass sein Auto nur aus einem Hinterteil besteht.

Popcorndrama mit Würde

«The Villagers» enthält fast keine Dialoge, mit wenigen Ausnahmen: Aus der Ferne ist der Tierfilmer David Attenborough zu hören, der irgendetwas redet, das nicht zu den gezeigten gemalten Landschaften passt, und ein Hinterwäldler, der auf eine Felsnase klettert, sendet weitgehend unverständliche Nachrichten durch ein Megafon in den Abgrund. Die Frustration eines misslaunigen Tennisspielers bleibt seltsam stumm, manifestiert sich aber im zerstörten Tennisschläger, den er zurücklässt. Es gibt eine Art Erzählung, doch sie wirkt zufällig. Was bleibt, sind die reichhaltigen Bildwelten, die Szenen, Schauplätze und klischierten Handlungen, die wir ein Leben lang mit US-Filmen aufgesaugt haben und die sich der offensichtlichen Zergliederung Van de Veldes hartnäckig widersetzen.

Die weitläufige Luzerner Ausstellung endet mit einem zweiten Film, «La ruta natural», mit ähnlicher Stimmungslage und denselben abrupten Überblendungen von Nahaufnahmen und Panoramaschwenks. In diesem kürzeren, geloopten Film tragen Schauspieler Van-de-Velde-Masken. Sie sind im Auto unterwegs, machen einen Abstecher in die Unterwasserwelt und in ein labyrinthähnliches Labor, begegnen einem roten Ballon, der aufgeblasen wird und gen Himmel fliegt.

Zwischen den Filmprojektionen gibt es Ausstellungsräume vollgestellt mit Bühnenbildern und Kulissen, darunter ein bunkerähnlicher Raum mit Computern, Monitoren und anderen Gerätschaften; ein enger Tunnel; ein zwei Meter hoher Berg mit einer in den Fels geschnittenen Spur, auf der ein Modellauto auf und ab fahren kann. Manche dieser Objekte kommen nur in einem der Filme vor, andere in beiden, alle haben eine handgemachte, billige, aber sehr sorgfältige Bauweise. Dazu kommen abfotografierte Keramikminiaturen, grossflächige Kohlezeichnungen und kleinere Farbstiftbilder.

Van de Velde ist ein ernsthafter Künstler. Es braucht viel Hingabe, um diesem Popcorndrama Würde zu verleihen. Seine nach aussen gekehrte Innenwelt kann überfordern. Aber sich zur Abwechslung mal in einem anderen Kopf aufzuhalten, ist schön. Fast wie im Kino.

Rinus Van de Velde: «I’d rather stay at home, …». Noch bis am 20. Juni 2021 im Kunstmuseum Luzern. www.kunstmuseumluzern.ch