«Heim für obsolete Medien»: Was uns der Fortschritt genommen hat
Befreit von ihrem ursprünglichen Zweck, verleiht der Tüftler und Künstler Flo Kaufmann alten Geräten neuen Sinn. Eine haptische Ausstellung im Kunsthaus Langenthal, die Fragen nach der Rolle der Technologie in unserem Leben aufwirft.
Der Duden kennt für das Adjektiv «obsolet» zwei Definitionen, die sich auf den ersten Blick zwar ähneln, in Wirklichkeit aber weit auseinanderdriften. Gemäss der ersten ist das Obsolete etwas, das nicht mehr gebräuchlich ist, oder – schon wertender formuliert – etwas Veraltetes. Laut der zweiten ist das Obsolete überflüssig. In diese begriffliche Spannweite schieben sich zahlreiche Fragen, die nach dem Wert des Vergangenen etwa. Oder nach der Funktion der Zeit in Bezug auf das materielle und kulturelle Erbe in einer Ära, in der selbst die fortschrittlichste Technologie nach wenigen Jahren schon wieder veraltet ist.
Elektroschrott und Steinzeitwaffen
Wer die Ausstellung «H.o.Me. – Heim für obsolete Medien» im Kunsthaus Langenthal betritt, findet sich zuallererst einem chaotischen Haufen von «Elektroschrott» ausgesetzt: Kästen mit Knöpfen, die einst wichtige Dinge regulierten; Computerplatinen mit mysteriösen Schaltkreislabyrinthen; unidentifizierbare, blau leuchtende Metallzylinder sowie unzählige Kabel verschiedener Dicke und Farbe. In der Luft der vertraute, aber auch leicht abstossende Geruch alter Elektronik. Es ist das ungeordnete Urchaos von Flo Kaufmanns Sammlung, aus dem der Ingenieur und Tüftler aus Solothurn, der einst die Schallplatte gerettet haben soll, neue Formen und Anwendungen kreiert, die man in Langenthal jetzt nicht nur betrachten, sondern auch berühren kann.
Hinter dem elektronischen Chaos befindet sich, ausnahmsweise in einer Vitrine, das erste Exponat von einem der zahlreichen Gäste, mit denen zusammen Kaufmann die Ausstellung gestaltet hat: die aus eingeschmolzenen elektronischen Bauteilen geformten Steinzeitwaffen des französischen Künstlerduos Dardex. Die Faustkeile, Speerspitzen und Messer, deren Griffe mit Kupferdraht oder farbigen Kabeln umwickelt sind, wirken wie eine plastische Umkehrung der berühmten Szene in Stanley Kubricks «2001: A Space Odyssey», in der innerhalb von einem Schnitt die unendliche Distanz zwischen urmenschlicher Waffe und einer tanzenden Raumstation überwunden wird.
Zu welcher Generation zählst du?
Mögen die im Rest der Ausstellung aufgespannten Zeiträume auch etwas kleiner sein, so sind sie immer noch weit genug, dass sich jede Besucherin und jeder Besucher einzig anhand der eigenen technologischen Biografie präzise verorten kann. Gehört man noch zu der Generation, die mit alten Röhrenradios und mit internationalen Städtenamen beschrifteten UKW-Reglern in die Ferne schweifte? Welchen haptischen Vorgang verbindet man mit der frühesten Erinnerung an die Musik: das Wenden der Schallplatte und vorsichtige Platzieren der Nadel? Oder eher das Einrasten der Abspieltaste beim Kassettengerät und das sanfte Geräusch des Zurückspulens, um immer wieder dasselbe Lied zu hören, das einem jemand auf das Mixtape kopiert hat?
Vielleicht gehört man ja auch bereits zu jenen, die das Hören von Musik nur noch als Funktion von digitalen Playlists kennen, die man selbst auf einen iPod geladen hat oder die man den Algorithmus des Streamingdienstes für sich auswählen lässt. Gleich einer Zeitreise kann man – etwa auf einem Teppich mit Hunderten von Kassetten und einem Abspielgerät – nachempfinden, was uns der Fortschritt gebracht, aber auch genommen hat.
Wer selbst schon vom Obsoletwerden einer bestimmten Technologie betroffen war – abgelöst etwa von einer digitalen Entsprechung –, weiss, wie traumatisch sich ein solcher Vorgang anfühlen kann. Ein Operateur beispielsweise, der miterlebt hat, wie ein hundert Jahre alter 35-mm-Filmstreifen innert kürzester Zeit durch digitale Vorführformate verdrängt wurde, trauert dessen verlorener Haptik noch heute nach. Das zeigt die Videoarbeit der Zürcher Künstlerin Alexandra Navratil: Eine gealterte Hand streift fast sehnsüchtig über die Zahnräder eines alten Kinoprojektors, dreht an Knöpfen und tastet sanft den Filmstreifen ab.
Befreiende Zweckentfremdung
Das mooresche Gesetz besagt, dass sich die Komplexität integrierter Schaltkreise etwa alle zwei Jahre verdoppelt. Im übertragenen Sinn lässt es sich leicht auch auf Technologien fern der Informatik anwenden. Plastischer als anderswo kann im «Heim für obsolete Medien» die Melancholie nachempfunden werden, die diesem Vorgang innewohnt. Umso tröstender wirken deshalb die zahlreichen von Flo Kaufmann zweckentfremdeten Objekte. Sie zeigen, dass die Loslösung eines technologischen Objektes von seinem ursprünglichen Verwendungszweck keinesfalls dessen Tod bedeuten muss: ein zum Musikinstrument umgebauter Staubsauger; ein Videospiel, in dem man mit einem realen Gefährt tatsächlich existierenden Hindernissen ausweichen muss. Sehr lebendig wirkt auch das «XYscope» von Ted Davis, ein an eine Kamera angeschlossenes Oszilloskop, das die Bewegungen seiner BetrachterInnen als vibrierende Umrisslinien wiedergibt.
«Das Veralten», heisst es im Katalog zur Ausstellung, «ist insofern auch eine Erlösung. Es setzt ein Potenzial frei und beinhaltet Möglichkeiten der Umdeutung oder Neu-Erfindung eines Mediums gegen das Diktat des richtigen Benutzens.» So erhält der Begriff «obsolet» in Flo Kaufmanns Ausstellung eine weitere Definition. Eine, die sich nicht in Worte fassen, sondern nur mit den eigenen Sinnen erfahren lässt.
«H.o.Me. – Heim für obsolete Medien» in: Kunsthaus Langenthal, Mi bis Fr, 14–17 Uhr, Sa und So, 10–17 Uhr; noch bis So, 25. Juli 2021. www.kunsthauslangenthal.ch