Digitalisierung: Blinkende Festplatten und Drucker, die spucken
Die Ausstellung «Raus aus dem digitalen Unbehagen» thematisiert die Hürden auf dem Weg in eine algorithmisch organisierte Lebenswelt.
Geheimnisse sind bekanntlich dort am besten aufgehoben, wo sie für alle sichtbar sind. Ein rekordhäufig geteiltes Foto des Ich-mach-was-dir-gefällt-Reality-Stars Kim Kardashian bewog die Künstlerin Maddy Varner zur Übersetzung dieses altbekannten Prinzips in die digitale Sphäre. Sie entwickelte «Kardashian Krypt», eine Browsererweiterung, mit der sich Nachrichten im Binärcode von Bildern verstecken lassen. Denn wo würde man tiefer liegende Botschaften weniger vermuten als unter der glänzenden Haut eines zwanghaft erotisch abgelichteten Körpers? «Kardashian Krypt» ist eine von dreissig Arbeiten der Gruppenausstellung «Raus aus dem digitalen Unbehagen», die derzeit im Kunsthaus Langenthal gezeigt wird.
Vor kaum dreissig Jahren schuf der britische Physiker Tim Berners-Lee am Cern in Genf die Grundlagen für das World Wide Web und katapultierte die Welt mal eben in ein neues Zeitalter. Dank des weltumspannenden Netzes besiedelt der Mensch heute nicht nur physische, sondern auch virtuelle Räume. Sie sind, was Amerika für die Europäer kurz nach ihrer Ankunft war: ein Eldorado der Möglichkeiten fern jeglicher Kontrolle. Gesetzgebende Instanzen hinken der Technologie hoffnungslos hinterher.
Die Arbeiten in «Raus aus dem digitalen Unbehagen» sind Verbindungsglieder zwischen technischer Avantgarde und politischer Trägheit. Im Fokus steht die Auseinandersetzung mit der Grenzziehung respektive -überwindung im virtuellen Raum. Im Internet muss Öffentlichkeit und Privatheit komplett neu verhandelt werden. Die Arbeiten mäandern zwischen Kunst, Informatik, Politik und Soziologie, viele haben Forschungscharakter und pflegen den aktivistischen Gestus.
Mit Information gegen Information
So etwa «qaul.net». Die Software des Künstlerduos Christoph Wachter & Mathias Jud verbindet WLAN-fähige Geräte zu unabhängigen, vom Internet entkoppelten Kommunikationsnetzwerken. Nachrichten können also selbst dann verschickt werden, wenn sämtliche Leitungen und Antennen gekappt sind – oder systematisch überwacht werden. «Qaul.net» kam zum Einsatz, als in Syrien gegen Assad und in der Türkei gegen Erdogan protestiert wurde.
Auch die Arbeit «Masquerade» des Designers Félicien Goguey ist eine Antwort auf die Bestrebungen der Regierungen, Informationsflüsse zu kontrollieren. Dazu lässt er auf dem Globus verteilte Kleinstcomputer, sogenannte «masq boxes», unablässig zufällig generierte Nachrichten mit vermeintlich bedrohlichem Inhalt austauschen: «Lieber Nationalist, bitte vergessen Sie nicht, nach der Arbeit Ihre Kinder und die biochemische Waffe abzuholen.» Dank der einschlägigen Schlagwörter werden die Nachrichten von den Suchalgorithmen der Geheimdienste zuverlässig herausgefiltert und in Speichern abgelegt, die zusehends zugemüllt werden.
Der Aktivist Benjamin Grosser hat nicht die Geheimdienste, sondern die sozialen Medien im Visier. «Go Rando» heisst sein Facebook-Plug-in, das Posts im eigenen Newsfeed zufällig mit einem «like», «haha» oder «angry» versieht und so verhindert, dass Facebook verlässliche Informationen über den Gemütszustand seiner NutzerInnen sammelt.
Das abwesende Werk
So geschickt «Go Rando», «Masquerade» und «qaul.net» in virtuelle Prozesse eingreifen, so verloren wirken die Arbeiten in diesem klassischen Ausstellungskontext. «Qaul.net» ist in Langenthal reduziert auf kleine blinkende Festplatten und stellwandkonforme Plakate, bei «Masquerade» steht unter verkabelten Minicomputern an der Wand ein Drucker, der die verschickten Nachrichten der «masq boxes» auf Faxpapier in den Raum spuckt. Am eklatantesten ist die Diskrepanz zwischen Werk und Exponat aber bei «Go Rando». Vor einem mit Smileys übersäten Banner thront auf einem Sockel ein Laptop, über den sich BesucherInnen bei Facebook anmelden und die Anwendung testen können – ein ziemlich ungerichteter Versuch, die systemüberfordernde Wirkung von «Go Rando» zu verdinglichen.
Es stellt sich die Frage, ob Werke, die auf eine blosse Illustration ihrer Arbeit zurückgreifen müssen, hier gut aufgehoben sind. Denn von ihnen geht keine die Digitalität entmystifizierende Wirkung aus. Eher noch betont die Unbeholfenheit im Umgang mit den Exponaten jene Gefühle des Unbehagens, die hier ja gerade überwunden werden sollen.
Umso eindrücklicher gelingt die Übertragung von algorithmischer Sprengkraft in den physischen Raum dagegen bei Julian Olivers «Transparency Grenade», einer durchsichtigen Handgranate in einer Vitrine, die über das lokale WLAN Daten aus dem Handy der BesucherInnen saugt und direkt an die Wand projiziert. Auch «Where have you been» von Lasse Scherffig schafft Dringlichkeit durch Interaktion. Auf einem Bildschirm erscheint eine auf den ersten Blick zufällige Serie von Google-Street-View-Bildern, die sich aber bald als besuchte Orte der BetrachterInnen herausstellen.
Ironischerweise ist es eine weitgehend analoge Arbeit, die das prägnanteste Bild findet für die Hürden auf dem Weg in eine algorithmisch organisierte Lebenswelt. Die Fotografie von James Bridle zeigt ein selbstfahrendes Auto, auf einem leeren Parkplatz stehend, eingekreist von einer weissen Sicherheitslinie. Der Algorithmus, dem es verboten ist, diese zu überqueren, ist gefangen in einem Loop.
«Raus aus dem digitalen Unbehagen» in: Kunsthaus Langenthal, bis 12. November 2017. www.kunsthauslangenthal.ch