Kolonialgeschichte: Versehrte Erinnerung

Nr. 21 –

Archivquellen, Mythen und Fiktion: Der moçambiquanische Autor Mia Couto schöpft für seine literarische Trilogie über die blutige Kolonialgeschichte Portugals aus dem Vollen.

Überall Misstrauen und Verrat: König Ngungunyane (Mitte) mit seinen sieben Frauen nach seiner Verbannung auf die Azoren um 1895. Foto: Institute of Tropical Scientific Research

Einst herrschte Ngungunyane, «der Schreckliche», wie er sich selbst nannte, über das letzte grosse Bantu-Reich am Indischen Ozean. Sein viele Völker umfassendes Königreich beherrschte er durch Unterwerfung, Raub und Vergewaltigung, bis sich einige gegen ihn auflehnten, indem sie sich mit den Portugiesen verbündeten. 1895 liess General Mouzinho de Albaquerque Ngungunyane gefangen nehmen und nach Lissabon schaffen, von wo er auf die Azoren verbannt wurde. Erst ein Jahrhundert später kehrten die sterblichen Überreste des Königs in das heutige Moçambique zurück.

Vor diesem historischen Hintergrund spannt der 1955 im moçambiquanischen Beira geborene Mia Couto seine gross angelegte «Imani»-Trilogie auf, deren zweiter und dritter Band nun zusammengefasst als «Asche und Sand» erschienen sind. Darin spinnt er die fiktive Geschichte der fünfzehnjährigen Imani weiter. Das Mädchen hat in einer Missionsschule die Sprache der Kolonialherren erlernt. Sie ist mit den sie umgebenden Kulturen vertraut – der ihres eigenen Volks, der Vachopi, der der mit ihnen verfeindeten Vanguni unter Ngungunyane und der der Portugiesen – und scheint zur Vermittlerin prädestiniert, weshalb sie auch statt barfuss in Schuhen geht. Doch dieses Symbol hat seinen Preis: «Deine Schritte werden nie mehr die eigenen sein», wird ihr im Traum prophezeit. «Du wirst dich von den anderen schwarzen Frauen unterscheiden. Und immer wenn du die Schnürsenkel zusammenziehst, wird es deine Seele sein, die du einschnürst.»

Dolmetscherin zwischen den Fronten

Der erste Band endet mit dem Überfall von Ngungunyanes Truppen auf Imanis Dorf, dem Suizid der Mutter und dem Schuss des Mädchens auf Serganto Germano de Melo, bei dem sie als Hausangestellte gedient hat. Dennoch keimen zarte Gefühle zwischen ihr und dem Mann auf, der die portugiesische Monarchie hasst und wider Willen in deren Uniform steckt. Der zweite Band setzt mit der Flucht auf einem Boot ein. Imani kümmert sich um den schwer verletzten Germano, begleitet von ihrem Vater und Bianca, einer Italienerin, die aus Imani eine Prostituierte machen will.

Imanis Vater will seine Tochter dem König Ngungunyane – der bereits sieben Ehefrauen hat – zur Frau geben, damit sie diesen töten kann. Imanis Träume dagegen richten sich auf Portugal und den realitätsflüchtigen Germano, der seinem (historisch verbürgten) Vorgesetzten, dem Tenente Ayres de Ornelas, in einem Brief gesteht, dass er weniger an der Wahrheit interessiert sei als an der «Möglichkeit, auf der anderen Seite des Papiers jemanden zu erfinden, der sich meine einsamen Fantastereien anhört».

Im Buch wechseln sich Briefe unter den Portugiesen, in denen nicht nur die militärische Lage erörtert, sondern Germano de Melo auch eindringlich vor einer Heirat mit einer Schwarzen gewarnt wird, ab mit den Berichten Imanis, die als Dolmetscherin zwischen die Fronten geraten ist. Ngungunyanes Truppen schaffen es nicht, die Portugiesen aus der heiligen Stadt des Reiches zu verjagen, die verschiedenen Missionsstationen geraten ins politische Gefechtsfeld.

Schliesslich wird Imani im dritten Band mit dem gefangenen Ngungunyane und seinen sieben Königinnen nach Portugal gebracht. «Jeden Abend», beschreibt sie ihre Lage, «wechsle ich die Rolle, die Dolmetscherin wird zur Denunziantin – entweder verrate ich meine Brüder und Schwestern oder man schickt mich nach der Entbindung zurück nach Mosambik. Ohne mein Kind, ohne Germano, ohne meine Träume.»

Furchen ziehen mit den Füssen

Misstrauen, Spionage und Verrat sind in dieser unübersichtlichen, von Aufständen, Gewalt und Konkurrenz geprägten Situation allgegenwärtig. In der europäischen Kolonialhierarchie steht Portugal ganz unten, gleichzeitig muss der König um den Bestand der Monarchie fürchten. Missionare unterschiedlicher Glaubensrichtungen konkurrieren um die afrikanischen Schäfchen, die ethnischen Gruppen wiederum sind zutiefst verfeindet. Loyalitätsbekundungen gegenüber den Kolonialherren sind brüchig, und den Portugiesen fehlt es an Verständnis für den Kontinent.

Der Reiz der Trilogie, deren Ereignissen zu folgen nicht immer ganz einfach ist, besteht in Coutos gekonnter Montage aus Archivquellen, überlieferten Mythen und Fiktion. Sie wird in «Asche und Sand» ergänzt mit einem fotografischen Anhang, der das historische Personal präsentiert. Das Werk offenbart jene «nicht zu heilende Wunde», die der Kolonialismus in Afrika geschlagen hat: «verstümmelte Erinnerung», mit allem Rassismus und dem noch heute schwärenden Kulturrelativismus, der dort seinen ideologischen Anfang nahm.

Coutos mythische Erzählungen, die seinen ausgedehnten Reisen durch das Land zu verdanken sind, verleihen dem Politischen des Romans eine bezaubernde Aura. Allein die einigen Kapiteln vorangestellte Schöpfungsgeschichte der Vachopi ist faszinierend zu lesen. Imani fungiert dabei als eine der Schwalbenbotschafterinnen, die Ngungunyane so hasst: «Ich trage an meinen Füssen Wörter und spinne daraus ein Netz, das die unterschiedlichen Rassen verbindet.» Noch als uralte Frau, die einem Besucher von dieser vergangenen Zeit erzählt, scheinen bei ihr die poetischen Bilder auf: «Seit Langem ist mein Körper ein Pflug, der mit den Füssen Furchen zieht.»

Mia Couto: Asche und Sand. Der Imani-Zyklus Bde. 2 und 3. Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner. Unionsverlag. Zürich 2021. 554 Seiten. 39 Franken