Ein Traum der Welt: Fürchterliche Wesen
Annette Hug findet Elben und Agenten
«Da musst du die Welt sehen, um sie dann zu vergessen», sagt meine Verwandte in der Cafeteria des Pflegeheims. Sie hat auch meinen Namen vergessen, freut sich aber sehr über den Besuch. Haben wir telefoniert? «Ich erinnere mich nicht an die Lücke», sagt sie, wenn alles blank ist. Aber Gedichtzeilen wecken Erinnerungen, und die Stimmung wird gut, wenn sich ein Reim bildet. «Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?» – «Es ist der Vater mit seinem Kind!»
Der Erlkönig bringt mich auf die Idee, in der Cafeteria zu arbeiten. Sie würde gern helfen, denn das wäre ein «Geben und Nehmen». Ich übersetze einen philippinischen Roman von Allan N. Derain ins Deutsche. Da kommt eine Fülle von Geisterwesen vor. Ihre philippinischen Namen würden den deutschen Text mit Wörtern verbauen, die sich niemand merken kann.
Jacob Grimm könnte helfen. Seine dreibändige «Deutsche Mythologie» ist ein vielsprachiges Kompendium, Namen gleiten von Alb zu Elb, Elf, Alf, Ulf, Olf, Olfulf quer durch die deutschen Lande, durch die Dialekte und in die nordischen Sprachen hinein, übers Wendische in slawische Nachbarsprachen; Angelsächsisch und Latein fliessen ein. Bei Jacob Grimm wird Europa so unübersichtlich wie der philippinische Archipel mit seinen über 130 Sprachen. Schön wäre, wenn es gelänge, die philippinischen Geisterwesen aus Bausteinen des grimmschen Wortschatzes nachzubilden.
«Uns haben sie nichts von Elben und Wichten erzählt. War ja Krieg damals. Das sagt alles.» – «Was sagt das?» – «Man hatte Angst die ganze Zeit. Da brauchst du keine Fürchtegeschichten.»
Was ein «trügelichez kunder» ist, verstehen wir beide nicht, aber es reimt sich: «Nimmt mich wunder!» Vieh- und Menschenfresser:innen gibt es hüben und drüben. Nicht übersetzen kann ich die Aswang, ein Wandelwesen, das einmal ein niederer Gott war. In 300 Jahren katholischen Glaubens und Aberglaubens wurde er zur Hexe.
Die Vorstellung, dass Aswangs den Schwangeren die Ungeborenen absaugen und sich wie Vampire von Menschenblut ernähren, war weitverbreitet, als der Luftwaffenoffizier Edward Lansdale in den 1950er Jahren von der CIA den Auftrag erhielt, auf den Philippinen neue Methoden der psychologischen Kriegsführung zu erproben. Er griff den Aswang-Glauben auf und entwickelte ihn weiter. Ziel war, eine Stimmung von Furcht und Schrecken zu verbreiten, wo immer die kommunistische Hukbalahap-Guerilla aktiv war – im Zweiten Weltkrieg noch Bündnispartner der US-Truppen gegen die japanischen Besatzer. Von Landsdales Terrorkampagne schreibt Allan N. Derain in einem historischen Essay.
Grimms Elvinnen, Wichtel und Pixies sind niedlich dagegen. «Ein bisschen Spass muss sein», sagt meine Verwandte und fragt, ob ich das Lied kenne. Auf Youtube finden wir Roberto Blanco, der in einer anderen Cafeteria vor älteren Leuten singt. «Ein bisschen Spass muss sein, dann geht die tote Hose ganz allein.» «Stimmt zwar nicht, ergibt aber Sinn – für die Fantasie», könnte ich erwidern, denn das ist ein Standardkommentar meiner Verwandten zu Sätzen aus der «Deutschen Mythologie».
Wenn die Geister verflogen sind, stellt sich in der leeren Cafeteria allerdings die Frage, wo wir eigentlich sind, wo sie wohnt, wer ich bin. Sie stellt fest: «Die alten Weiber sind auch nicht mehr, was sie mal waren.»
Annette Hug ist Autorin und zurück in Zürich, wo sie sich mit Jacob Grimm in den alten deutschen Wortschatz vertieft.