Ein Traum der Welt: Personalengpass

Nr. 6 –

Annette Hug hat Street Credibility

Auf der Demenzstation sind neue Leute eingezogen, andere sind gestorben. Die Grippe im Januar war heftig. Einige der Neuen sind noch so klar, dass sie wissen, wie man mit dem Lift hinunter- und hinausgelangt. Weil man sie davon abhält, wird wieder deutlich, dass eine «geschützte Abteilung» ein Gefängnis ist.

Unter den Neuen sind alte Festnudeln, erfahrene Organisatorinnen von bunten Abenden, eine kann jodeln. Kürzlich kams zu einer spontanen Sing- und Tanzrunde, unterstützt von einer Youtube-gewandten Pflegehelferin. Da ist auch meine Verwandte aus ihrem stillen Sinnieren aufgewacht, da waren plötzlich wieder ganze Sätze. Wir konnten ein Lied einspeisen, mit dem sie vor fünf Jahren, als Neue, ihren Zustand kommentiert hatte: «Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst.» Juliane Werding.

Aber dann kamen der Schichtwechsel und diese seltsame Pause bis zur Spätschicht, gefühlt eine halbe Stunde, in der das Licht draussen schwächer wird, die Erste fragt, ob sie nach Hause kann und wenn ja, wie. Eine Zweite muss aufs Klo, gleich müssen alle. Aber in dieser seltsamen Pause zwischen den Schichten ist nur eine einzige Pflegerin da, sie macht Apfelschnitze, denn etwas zu essen sei das Einzige, was in diesem Moment helfe. Immer dasselbe, jeden Tag um diese Zeit: Weinen. Klagen. Wütende Proteste. Bis die Spätschicht eintrifft und der grosse Wagen mit dem Nachtessen.

Bei allen bezaubernden Momenten auf der Station ist die Härte nicht wegzureden. Dazu gehören die Fragen, die ich mir im September gestellt habe, als ich für ein Stipendium nach Paris abreiste. Würde die seelische Verbindung halten, wenn ich nur einmal pro Monat zurückkäme? Wer von den andern Bewohner:innen, die mir ans Herz gewachsen sind, würde in diesen vier Monaten sterben? Die Befürchtung, das halbe Personal werde wechseln und ich müsse meine Street Credibility beim Team neu aufbauen, hat sich nicht bestätigt. Bei der Rückkehr hat sich meine Verwandte gefreut, mich zu sehen. Es geht ihr gut.

Jetzt ist wieder Alltag: Offenbar steht irgendwo, dass Pflegende die Bewohner:innen nicht allein hochheben sollen, sondern immer zu zweit. Meine Verwandte kann schon länger nicht mehr allein vom Rollstuhl auf einen Sessel oder ein Sofa umsteigen. Sie ist sehr leicht geworden, und ich habe mir das Hochheben zeigen lassen, weil nicht immer jemand da ist, wenn meine Verwandte das Reissen hat und aus dem Trubel rauswill auf eine ruhige Spazierfahrt durch die verwinkelte, weite Station.

Dann ist es vorgekommen, dass ich sie selbst hochgehoben habe, und einmal hatte ich tagelang Rückenschmerzen. Ich kanns eben nicht richtig. Wobei mir eine Pflegerin beschrieben hat, was sie – die Älteren im Team – alles tun, um sich zu stärken (Krafttraining, Kinästhetik). Einige Regeln zum Gesundheitsschutz seien komplett unrealistisch. Von einer weiss ich, dass sie wegen Rückenproblemen länger krankgeschrieben war. Wenn ich jetzt also jemanden bitte, beim Umsteigen zu helfen, dann mit dem Gefühl: dein Rücken oder meiner?

Auf der Demenzstation klingen die ersten Zeilen von Juliane Werdings Schlager utopisch: «Der Tag war zu Ende, und ich war zufrieden mit mir. Da ging ich, weil ich nicht schlafen konnte, noch raus auf ein Glas Bier.»

Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin.