Ein Traum der Welt: Im Couchette-Abteil
Annette Hug hilft sich mit Mayröcker gegen die KI
Wann das Wort «zutexten» Einzug hielt, kann ich nicht sagen. Irgendwann war es da und schien auf manche Begegnung zu passen: «Man wird zugetextet.» Jetzt nimmt das Wort nochmals eine ganz neue Bedeutung an, weil alle davon reden und schreiben, wie sie das Plauderprogramm (Chat GPT) ausprobieren. Texte werden verglichen, abgeglichen. Ein Trend zum Durchschnittstext, zur durchschnittlich anzunehmenden Information wird konstatiert. Übersetzer:innen droht durch selbstlernende Programme die Herabstufung zum «Post-Editing»: nicht mehr selber schreiben, sondern nur noch blöde Fehler einer Maschine suchen.
Als Antidot gegen die maschinellen Zutexter dient mir Anne Kublers französische Übersetzung von Friederike Mayröckers «Reise durch die Nacht». Das Original erschien 1984, die Übersetzung vor wenigen Monaten. Da finden sich Sätze, die so schön sind, dass man denkt: Das geht doch gar nicht auf Deutsch. «Je vagabonde j’abonde seulement de-ci de-là» zum Beispiel, aber das kommt ja vom Deutschen: «Ich meine ich streune, strome ja nur herum.»
Eine Sechzigjährige fährt im Nachtzug von Paris zurück nach Wien, in einem Couchette-Abteil. Im unteren Bett liegt ihr Partner, während sie oben halb wach liegt und in Gedanken durch ihr Leben schweift, zu einem Liebhaber, in Briefe, in die Landschaft vor dem Zugfenster, in ihre Arbeit (Schreiben). Es ist ein Buch, in dem Mayröcker deutlich macht, was sie sich an der Schwelle zum Alterswerk vornimmt: «Jetzt ist mein Leben bald ausgeschwitzt, […] ich verzichte auf alle Rücksichten und arbeite unabhängig von allen Anforderungen gesellschaftlichen Normen und Voraussetzungen, alle sechzig Jahre ein Feuerpferd …»
Sie wird dann noch drei Jahrzehnte lang Bücher schreiben, mindestens eines pro Jahr, sie lässt «die Zeit gleicherweise vor und rückwärts laufen, eine Weltspielbühne, Sonne im Kopf». Keinen Joint, das brauche sie nicht, denkt die Halbschlafende im Couchette-Abteil, Euphorie zieht sie aus der Sprache selbst und aus ihrem «Hausunwesen», in dem Wörter ganz eigene Bedeutungen annehmen. «Zitieren» heisst hier: einen Satz aus einem Buch auf einen Zettel kritzeln, in ein anderes Buch einlegen oder zwischen andere Zettel, ihn verlieren, wiederfinden.
Dass Friederike Mayröcker am 4. Juni 2021 gestorben ist, habe ich noch nicht verwunden. Was für ein Glück also, durch die Übersetzung noch mal ein Buch zu entdecken und zu denken: Die Mayröcker-Sprache hat schon immer auf das Wort «obnubiler» gewartet – «vernebeln» kommt nicht daran heran. Und plötzlich taucht im Fluss der französischen Sätze ein Verlangen nach dem härteren Türmen und Stapeln des Deutschen auf, nach der Bauklotzsprache. Nur beim Lesen unbekannter Namen auf Grabsteinen kommt dieses Prinzip auch im Französischen zum Durchbruch: Stillheim, Foyercalme, Finkhof, Courpinson, Lauerbach, Douxruisseau – wenn sich denn eine Übersetzerin den Spass erlaubt. Wenn also ein Mensch da ist, der sich eine Sonne im Kopf zündet, in «Gründe und Abgründe» abtaucht und daraus etwas Eigenes hervorbringt. Was ein Algokran aus einer Datenhalde hebt, mag eine Sekunde lang Erstaunen wecken. Wirklich bewegend ist die Fähigkeit einer Übersetzerin, zwischen Sprachen, Zeiten und eben auch Menschen eine neue, flirrende Beziehung zu schaffen.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und hocherfreut, dass Friederike Mayröckers «Reise durch die Nacht» von 1984 in der Bibliothek Suhrkamp weiterhin lieferbar ist.