Gendermedizin: Der Zyklus soll die Forschenden nicht stören

Nr. 23 –

Die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek erklärt, warum die Faktoren Sex und Gender in der Medizin kaum berücksichtigt werden, weshalb vorwiegend an Männern geforscht wird – und inwieweit sich Gendermedizin und Feminismus überhaupt vereinbaren lassen.

Was nur an Männern erforscht wurde, muss Frauen nicht unbedingt helfen. Illustration: Corinna Staffe Jud

WOZ: Gendermedizin befasst sich mit den Einflüssen von Gender und Geschlecht auf die Gesundheit. Frau Regitz-Zagrosek, wie gross ist dieser Einfluss?
Vera Regitz-Zagrosek: Geschlecht und Gender spielen in verschiedenen Bereichen der Medizin eine grosse Rolle. Am besten aufgearbeitet sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Herzmedizin – vermutlich, weil die Menschen hier schnell und spektakulär an den Folgen von Fehleinschätzungen sterben können. Aber es gibt auch viele andere Beispiele. So weiss man heute, dass Frauen stärker von Rheuma oder Autoimmunerkrankungen und häufiger und schwerer von Medikamentennebenwirkungen betroffen sind. Das liegt unter anderem daran, dass die Medikamente nicht für Frauen entwickelt wurden.

In der Medizin wird vorwiegend am Mann geforscht. Wieso eigentlich?
Ich denke, das liegt an der geringeren Wertschätzung von Frauen. Hinzu kommt, dass gerade im Bereich medizinischer Tests bis heute der Irrglaube verbreitet ist, Frauen und auch weibliche Mäuse, an denen getestet wird, wiesen aufgrund ihres Zyklus eine höhere Variabilität auf, was die Befunde störe. Das muss man sich gedanklich auf der Zunge zergehen lassen – man nimmt an, dass es eine Interaktion zwischen Zyklus und Arzneimittelwirkung gibt, und klammert das aus der Testung aus. Hinterher verabreicht man die Arznei munter an Personen, die einen Zyklus haben. Das ist schon eine ganz besondere Logik. Inzwischen hat man aber herausgefunden, dass männliche Mäuse eine weit höhere Variabilität aufweisen. Durch ihre Hierarchiekämpfe haben sie so stark wechselnde Testosteronspiegel, dass die Testergebnisse stärker beeinflusst werden als durch den weiblichen Zyklus. Das wissen bloss noch nicht alle in der Forschung.

Wissen sie es nicht, oder ist es ihnen egal?
Es ist den Verantwortlichen tatsächlich oft nicht bewusst. Soweit ich weiss, werden die Faktoren Sex und Gender in der Versuchskunde sehr selten berücksichtigt. DoktorandInnen, die Tierexperimente planen, bevorzugen homogene Gruppen mit möglichst vielen Tieren. Sie wollen nicht durch den weiblichen Zyklus gestört werden und nehmen deshalb nur Männchen. Die Mechanismen von akuten Coronaerkrankungen wie Spasmen oder Funktionsstörungen der Gefässe, die bei Frauen oft zu einem Infarkt führen, werden in den Experimenten überhaupt nicht abgebildet. Das ist ein Grund dafür, dass Frauen relativ schlecht behandelt werden – weil die Medikamente nicht für Frauen entwickelt wurden.

Müsste man eher bei den Universitäten oder bei der Pharmabranche Druck machen, damit Frauen angemessen berücksichtigt werden?
Man müsste insbesondere die Pharmabranche stärker in die Pflicht nehmen. Bis zum Zeitpunkt, an dem ein vielversprechendes therapeutisches Mittel entsteht, wird die Grundlagenforschung an den Universitäten geleistet. Danach wird ein Pharmaunternehmen gesucht, das die Entwicklung, also weitere Tierexperimente und klinische Studien, finanziert. Sex und Gender spielen dann meist keine Rolle: einerseits, weil es immer noch ein Stück weit tabuisiert ist, ja gar ein wenig «unanständig» klingt in den Ohren der alten Herren in der Chefetage – andererseits, weil das Wissen darüber fehlt. Ich habe mal mit einem einflussreichen Pharmachef gesprochen, und er meinte, es wäre viel zu kompliziert, Medikamente für Frauen und Männer in unterschiedlichen Dosen zu verordnen. Das ist unsäglich! Praktizierende ÄrztInnen schaffen es schon zu unterscheiden, ob sie einen Mann oder eine Frau vor sich haben.

Hat sich überhaupt etwas verändert, seit Sie vor fünfzehn Jahren das erste deutsche Institut für Geschlechterforschung in der Medizin gegründet haben?
Ja, definitiv. Als wir das Institut gründeten, guckten uns die Leute an, als kämen wir direkt vom Mond. Langsam gibt es mehr Forschungsprojekte mit gendermedizinischem Fokus. Und auch an den Universitäten tut sich etwas – allerdings auch dort sehr langsam. Wir haben in Deutschland vierzig medizinische Fakultäten, davon haben nur zwei eine Professur für Gendermedizin.

Seit Beginn der Pandemie ist das öffentliche Interesse an Gendermedizin stark gestiegen. Liegt es daran, dass Männer tendenziell stärker an den Folgen einer Covid-Erkrankung leiden?
Das entspricht genau meiner Einschätzung. Auch bei den Coronastudien können wir einen Gendergap beobachten. Ein aktuelles britisches Paper zeigt, dass nur etwa zwanzig Prozent der Umfragen mindestens zur Hälfte mit Frauen durchgeführt wurden.

War das der Grund, weshalb erst so spät bekannt wurde, dass die Nebenwirkungen des Astra-Zeneca-Impfstoffs bei Frauen häufiger auftreten und gefährlicher sind?
Die Impfstudien waren tatsächlich der einzige Bereich, in dem Frauen als Forschungsteilnehmerinnen nicht unterrepräsentiert waren. Das Problem war, dass man bei den Publikationen zwar die Wirkung für Frauen und Männer einzeln ausgewiesen hat, die Nebenwirkungen jedoch nicht.

Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt schwangeren Frauen, sich nicht impfen zu lassen. Wie gross ist die Forschungslücke bei Schwangeren im Allgemeinen?
Die meisten Firmen klammern das Problem einfach aus und sagen: «Ist für Schwangere nicht empfohlen.» Aber auch Schwangere brauchen Medikamente, beispielsweise Blutverdünner oder Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen. Der einzelne Arzt hat zwar immer die Macht, sich über eine Empfehlung hinwegzusetzen. Er trägt dann aber auch das Risiko, falls etwas schiefgehen sollte. Was man hier bräuchte, wäre mehr Geld für Register.

Register?
Es gibt Frauen, die ein bestimmtes Medikament nehmen, weil sie noch nicht wissen, dass sie schwanger sind. Wenn man die alle systematisch erfasst, kommt man zu einem Datensatz, der zeigen kann, dass ein Medikament vielleicht doch akzeptabel ist während der Schwangerschaft. In den Niederlanden gibt es ein grosses Register namens Ropac zu Schwangerschaft und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. So was müssten mehr Staaten grosszügiger fördern.

Bisher haben Sie fast nur von Frauen und Männern gesprochen. Wird so nicht ein binäres Geschlechtermodell gefestigt, das von weiten Teilen der neuen feministischen Bewegung infrage gestellt oder abgelehnt wird? Anders gefragt: Lassen sich Gendermedizin und Feminismus vereinbaren?
Für mich schon. Eine feministische Forderung ist ja, dass Frauen und Männer gleichberechtigt und -gestellt sind, was wir seitens Gendermedizin ganz stark vertreten: Frauen und Männern steht eine gleich gute Gesundheitsversorgung zu, und um beide adäquat zu berücksichtigen, muss man auf ihre Eigenheiten eingehen. Die ebenfalls von einigen FeministInnen vertretene Behauptung, auch die biologischen Grundlagen von Geschlecht seien sozial konstruiert, funktioniert für mich als Medizinerin nicht. Jede Zelle hat eine Dimension von Sex, die Geschlechtschromosomen, und die haben einen relativ grossen Effekt auf die Funktion der Zelle.

Aber wird Geschlecht mittlerweile nicht viel mehr als Spektrum verstanden, da auch Hormone nicht immer nur weiblich oder männlich sind und nicht einmal Chromosomen?
Doch, das stimmt, und dieses Verständnis wird auch von der Gendermedizin vertreten. Wir haben kürzlich zwei Arbeiten zum Thema Gender-Score publiziert. Das ist ein Wert, der das soziokulturelle Gender misst und sich zwischen 0 (rein männlich) und 100 (rein weiblich) bewegt. Im ersten Drittel von 0 bis 30 häufen sich die sich soziokulturell als Männer definierenden Personen, im Bereich 70 bis 100 siedeln sich überwiegend Frauen an. Zwischen 30 und 70 Prozent liegen aber genauso viele Individuen wie in den Dritteln des extremen Spektrums. Solche Studien tragen dazu bei, Stereotype aufzuweichen, weil sich zeigt, dass sich gerade jüngere Menschen nicht mehr stark nach klassischen Gendermerkmalen unterscheiden – und dass sich Kategorisierungen aufgrund dieser Merkmale verändern.

Wie sieht es mit Kategorien wie Alter, Herkunft und Klasse aus – haben diese nicht einen genauso grossen Einfluss wie Sex und Gender oder gar einen grösseren, wenn es um Diagnose und Therapie von Krankheiten geht?
Einfluss haben sie auf jeden Fall. In der Gendermedizin beachten wir auch Kategorien wie Bildungshintergrund und sozialen Status. Bei moderneren Risikomodellen für kardiovaskuläre Erkrankungen sieht man, dass sozioökonomische Voraussetzungen wesentliche Faktoren für eine Erkrankung sind. Frauen leben, obwohl sie biologisch gesehen im Vorteil wären, häufiger in prekären Situationen. Insofern ist das auch wieder eine Kopplung an Gender: Frauen sind immer noch schlechter bezahlt als Männer.

Vera Regitz-Zagrosek, Kardiologin

Vera Regitz-Zagrosek (67), Fachärztin und Professorin für Kardiologie, war von 2007 bis 2019 Direktorin des von ihr mit gegründeten Instituts für Gendermedizin an der Charité in Berlin. 2019 war sie als Gastprofessorin für Gendermedizin an der Universität Zürich tätig.