Gendermedizin: Mehr als die Summe der Hormone
Der Titel ist Programm: «Notre corps» steht für die Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Leiden, die Frauen mit ihrem Körper verbinden – und doch weist Claire Simons Film weit über die Biologie hinaus.
«Lieber lebe ich mit dem Schmerz, als dass ich keine Lust mehr empfinde.» Es sind die wohl erschütterndsten Worte in diesem an persönlichen Dramen reichen Film. Die junge Frau ringt um Fassung gegenüber ihrem Arzt, der sie erneut mit Medikamenten behandeln will. Seit Jahren hat sie starke Schmerzen während und nach dem Geschlechtsverkehr, an Kinder ist nicht zu denken. Ihre Geschichte ist eine von über zwei Dutzend, die Claire Simon in einer Pariser Frauenklinik mit der Kamera festhält. In «Notre corps» verdichten sie sich zu einem feministischen Manifest, das gleichzeitig über sich hinausweist: Wann endlich erhält die Kategorie Geschlecht in all ihren Spielarten auch in der Medizin die Aufmerksamkeit, die ihr zusteht?
Die junge Frau leidet an Endometriose. Jede zehnte Frau ist von diesen schmerzhaften Wucherungen ausserhalb der Gebärmutter betroffen, unbehandelt führen sie bei fast jeder Zweiten zu Unfruchtbarkeit. Und doch verstreichen bis zur Diagnose oft bis zu zehn Jahre. Warum gilt es noch immer als normal, dass Frauen Monat für Monat an heftigen Schmerzen leiden? Weshalb werden Mädchen nach wie vor angehalten, diese still zu erdulden?
Solche Fragen sind wichtig, weil sie deutlich machen, dass Schmerz und Krankheit nicht nur ein biologisches, sondern auch ein soziokulturelles Geschlecht haben. Kardiologinnen gehörten zu den ersten, die darauf aufmerksam machten: Frauen ereilt zwar seltener ein Herzinfarkt als Männer, sie sterben aber häufiger an den Folgen, weil sie ganz andere Symptome zeigen als Männer, die in der Medizin immer als Massstab gedient haben. Mit dem neuen Nationalen Forschungsprogramm «Gendermedizin» (NFP 83) rücken solche Fragen nun auch in der Schweiz in den Fokus. Es ist mit elf Millionen Franken dotiert und soll die Basis schaffen, um Geschlechter- und Genderaspekte in der medizinischen Forschung und in der Gesundheitsversorgung zu verankern.
Mit ethnografischem Blick
«Notre corps» verleiht diesen Fragen Sichtbarkeit und Dringlichkeit. Ja, der weibliche Körper ist nach wie vor ein blutiges Schlachtfeld – doch so plakativ die Erkenntnis, so leise kommt sie im Film daher. Claire Simon nimmt uns mit auf einen Parcours durch Behandlungszimmer, Operationssäle und Labore, der von der ungewollten bis zur künstlich herbeigeführten Schwangerschaft, von der Geburt bis zur Palliativbehandlung reicht und über zahlreiche Stationen mit frauenspezifischen Erkrankungen führt. Fast drei Stunden dauert dieser Parcours – und keine Sekunde davon ist langweilig.
Denn Simon führt ihre Kamera so präzis und subtil, dass in den Bildern eine Nähe und Intimität entsteht, der man sich kaum entziehen kann. Wie in den Minuten, als eine Ärztin ihrer Patientin am Spitalbett eröffnet, dass sie sterben wird, und die Kamera starr auf das unglaublich gefasste Gesicht der Kranken gerichtet bleibt – bis auf jene zwei, drei Momente, in denen sie auf die Finger der Ärztin wechselt, die erst den Handrücken der Patientin streicheln und ihre Hand schliesslich fest umklammern. Manchmal kippt diese Intimität auch ins Unheimliche, ja Klaustrophobische, etwa wenn wir einer die ganze Leinwand füllenden In-vitro-Befruchtung unter dem Mikroskop beiwohnen. Oder wenn die Kamera uns im OP zum Hinschauen zwingt, wie die Ärztin einen riesig anmutenden Stahlstachel in Anschlag bringt, um das Häufchen Zellen, aus denen ein Embryo entstehen soll, in einen Uterus zu befördern.
Meist sitzen wir aber mit den Patient:innen im Sprechzimmer und verfolgen, wie eine Person im weissen Kittel Diagnosen übermittelt und Behandlungen vorschlägt. Als hätte ihr Gegenüber tatsächlich eine Wahl, wenn es um Schmerzen oder eine Krebserkrankung geht. Bald formt sich aus den vielen Sequenzen individueller Schicksale ein Muster, ein Narrativ, das von Ausgeliefertsein erzählt und von der Reproduktion als Bürde der Frau. Die Ärzt:innen nehmen sich Zeit. Und doch wirken ihre Fragen und Anmerkungen mitunter empathievermindert, fast übergriffig; vor allem, wenn ihnen migrantische Frauen gegenübersitzen.
Claire Simons Kamera hat einen ethnografischen Blick, und der kommt nicht von ungefähr, hat sie das Handwerk doch bei Jean Rouch verfeinert, dem Vater des «cinéma-vérité». Sie selbst ist (an)teilnehmende Beobachterin, die darum weiss, dass die Präsenz der Kamera die Situation beeinflusst. Zuweilen ruft sie dies auch explizit in Erinnerung, stellt aus dem Off eine Frage, antwortet anstelle der Ärztin mit einem angelegentlichen «Oh ja!», als eine Patientin sagt: «Ich dachte, es sei normal für Frauen, Schmerzen zu haben, zu leiden … Kennen Sie das?»
Hadern und kapitulieren
Und dann tritt Simon selbst vor die Kamera – und einem Arzt gegenüber: Während der Dreharbeiten ist sie an Brustkrebs erkrankt. Jetzt eröffnet er ihr, dass sie beide Brüste wird amputieren lassen müssen und auch eine Chemotherapie wohl unvermeidbar ist. Sie hadert, irgendwann kapituliert sie mit den Worten «Ah bon, ist ja nicht so, dass ich die Erste wäre …»
Hinter der Kamera operiert sie so behutsam, dass auch intime Untersuchungen nie voyeuristisch anmuten. Vielleicht irritiert deshalb, wenn die Menschen, deren Hände bei körperlichen Untersuchungen so feinfühlig vorgehen, in der Ärzt:innenkonferenz dann sehr routiniert und burschikos über den Frauenkörper verhandeln: «Möglicherweise ist die Patientin nach der OP inkontinent», meint einer, «Erstaunlich, dass sie es vorher nicht schon war», ein anderer.
Es ist der Moment, in dem «Notre corps» kurz die Klinik verlässt. Draussen wird lautstark demonstriert, «Gemeinsam gegen die Gewalt in Geburtshilfe und Gynäkologie» steht auf einem Transparent, Frauen berichten mikrofonverstärkt von ihren Erfahrungen bei Untersuchungen und von Übergriffen, auch verbalen. Sie fordern, im Vorfeld informiert zu werden, was auf sie zukommt, und dass nichts ohne ihr explizites Einverständnis geschieht: «C’est notre corps!»
In Sachen Frauengesundheit macht Frankreich mittlerweile vorwärts: Anfang 2022 hat der französische Präsident Emmanuel Macron eine nationale Strategie im Kampf gegen Endometriose ausgerufen und diese zum gesellschaftlichen Problem erklärt. In der Schweiz organisieren sich Betroffene noch immer weitgehend selbst. Gleich mehrere parlamentarische Forderungen nach einer Endometriosestrategie wurden in den vergangenen Jahren vom Bundesrat abgelehnt, die jüngste in der Frühlingssession. Durchgekommen ist im März ein Postulat, das den Bundesrat beauftragt, frauenspezifische Krankheiten gezielter erforschen zu lassen und für Qualität in deren Behandlung zu sorgen.
Erster Lehrstuhl für Gendermedizin
An der Gendermedizin scheint sich in der Politik niemand die Finger verbrennen zu wollen. Mitte Juni hat der Ständerat eine Motion zu ihrer Förderung erneut abgeschmettert, nachdem diese die Hürde im Nationalrat noch teilweise genommen hatte – schon damals gegen den expliziten Willen des Bundesrats. Vom NFP 83 sind erst in einigen Jahren erste Resultate zu erwarten. Derweil machen die Universitäten mit einer strukturellen Verankerung vorwärts: Die Uni Luzern hat vergangenen Herbst ein entsprechendes Ausbildungsmodul eingeführt, in Bern können sich Ärzt:innen in sex- und genderspezifischer Medizin weiterbilden, die Uni Zürich hat eben den ersten Lehrstuhl für Gendermedizin geschaffen.
Wie notwendig diese Initiativen sind, zeigt «Notre corps» gerade im Fall von trans Personen: In die Sprechstunde kommt ein trans Mann mit Menstruationsbeschwerden, der Arzt rät zur Unterbindung. Einer älteren trans Frau rät er, wegen steigender Gesundheitsrisiken das Östrogen herunterzufahren und die Hormontherapie zu beenden. Den Zusammenhang kenne man allerdings nur von cis Frauen, im Fall von trans Frauen fehlten Daten, man verfahre deshalb analog, entschuldigt er sich.
Wer weiss, vielleicht folgt auf den abtretenden Schweizer Gesundheitsminister ja eine Person, die Gendermedizin auch auf die politische Agenda setzt.
«Notre corps». Regie: Claire Simon. Frankreich 2022. Jetzt im Kino.